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Selbstorganisation - Radikale Demokratie

Jungdemokratinnen/ Junge Linke & Bündnis gegen Rechts, Leipzig
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Referat Marc MULIA


Ich kann mich soweit vorstellen, daß ich zum einen bei den Jungdemokratinnen/Junge Linke - das ist ein parteiunabhängiger politischer Jugendverband - seit ungefähr 10 Jahren aktiv bin. Zum zweiten an der Uni Duisburg wissenschaftlicher Mitarbeiter für soziologische Theorie bin und eigentlich nicht selbst aus der Antifaarbeit komme, sondern mich - und das wird jetzt auch gleich in meinem Referat deutlich - vor allem mit gesellschaftlichen Entwicklungen insgesamt beschäftige und da natürlich die Rechtsentwicklung, die wir jetzt schon länger beobachten können, stark im Blick habe und von daher mich auch damit stark auseinandersetze: Wie können Gegenkonzepte aussehen?

Der Neoliberalismus und seine Bedeutung

Also zum Hintergrund: Meine Einschätzung ist, was auch für die Diskussion über Rechtsextremismus und rechte Hegemonie in den Neuen Bundesländern ein zentraler Punkt ist, den man betrachten sollte: Die gesellschaftliche ideologische Auseinandersetzung, die spätestens 1989 noch mal neuen Schub bekommen hat, und das zentrale Stichwort - die Losung gewissermaßen - dieser gesellschaftlichen Entwicklung ist der Neoliberalismus. Die Auseinandersetzung, die stattfindet, ist - glaube ich - eine auf deren einer Seite Positionen stehen, die ich als neoliberale Positionen kennzeichnen würde, die sich für mehr Wettbewerb einsetzen, die auch suggerieren: Da führt gar kein Weg dran vorbei, wir befinden uns in einem internationalen Wettbewerb, der Wirtschaftsstandort Deutschland muß gesichert werden. Das was bei den Leuten dabei ankommt, ist, es gibt eben insgesamt nicht genug für alle, es findet ein Verteilungskampf auf der Welt statt, aber der findet auch im jeweiligen Land statt und da muß man eben kämpfen, da werden letztlich nicht alle dabei gewinnen können, sondern es setzt sich dabei am Ende der Stärkere durch. Da muß jeder für sich schauen, persönlich das Beste dabei rauszuholen.
Aber das begünstigt meiner Einschätzung nach auch Kräfte, die sagen: "Wir müssen jetzt als Nation zusammen stehen". Das Gerede vom Wirtschaftsstandort Deutschland legt das ja auch schon sehr nahe. Das sagt im Grunde: Das ist ein Kampf, der auf internationaler Ebene stattfindet, der ein Kampf zwischen Nationen ist und wenn es uns auch in Zukunft noch gut gehen soll und wir das alles, was wir hier Schönes haben, erhalten wollen, dann müssen wir als Nation zusammenstehen und gemeinsam kämpfen, sollten wir uns auf unsere gemeinsame Herkunft besinnen usw.
Also noch mal abstrakt gesagt: Die grundsätzliche Auseinandersetzung die stattfindet, ist die zwischen Ideologien, die davon ausgehen, das die Menschen - jeder für sich - kämpfen müssen und am Ende nicht alle das Gleiche haben werden und auf der anderen Seite Ideologien - und das würde ich sagen, sind klassisch linke Vorstellungen, die erstens von der grundsätzlichen Gleichheit im Sinne einer Gleichwertigkeit zwischen den Menschen ausgehen und zweitens daraus aber auch die Folgerung ziehen, das es Ziel einer politischen Auseinandersetzung sein muß, für gleiche Lebensverhältnisse zu streiten und zwar nicht nur für eine verfahrensmäßige Gleichbehandlung, wie sie im Grund auch in vielen Bereichen auch in unserer Gesellschaft vorhanden ist - also alle haben im Grunde das gleiche Recht, wenn sie sich ein Haus im Ausland kaufen, das von der Steuer abzusetzen - sondern es geht auch um eine materielle Gleichstellung dabei, um eine Chancengleichheit, z.B. im Bildungssystem, also das ist eben eine grundlegend linke Position. Das ist die grundsätzliche ideologische Auseinandersetzung, die in der Gesamtgesellschaft zur Zeit stattfindet und das ist die Grundlage, auf der auch im Moment der Weg bereitet ist für rechte Ideologien, stärker zu werden, sich breit zu machen. Die Sache ist nämlich die, das in der momentanen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen - zumindest im gesellschaftlichen Mainstream - sich die eine Position durchgesetzt zu haben scheint, die besagt, daß ein Verteilungskampf stattfindet und das nicht alle gewinnen können. Dazu scheint es für viele Menschen gar keine Alternative mehr zu geben, sondern ich glaube das viele den Eindruck haben: So ist das eben, das ist die Welt. Das kann man auch bei Befragungen feststellen, die Welt ist eben so, da muß man schon was tun, wenn es einem gut gehen soll. Rechte Ideologien setzen da an und versprechen im Grunde gewissermaßen mit dieser Situation fertig zu werden, nämlich im Besinnen auf die Gemeinsamkeiten des Volkes und dem Einschwören auf die Nation. Damit wird nach außen hin die Chance angeboten - oder glaubend gemacht - daß wir uns international außerhalb durchsetzen können. Nach innen hin wird der Kampf untereinander aufgefangen mit der Losung: "Innerhalb unseres Landes müssen wir zusammenstehen, da sollten wir gemeinsam Seite an Seite kämpfen." Was dann natürlich nicht gilt für diejenigen, die anderer Meinung sind - das ist klar. Wer diese Einschätzung nicht teilt oder gar versucht, so wie das viele von uns tun, sich dem massiv entgegenzustellen, der wird mit entsprechenden Mitteln bekämpft und es gibt da im übrigen noch genügend andere Feinde im Inneren, die bekämpft werden, da für viele Probleme Sündenböcke gebraucht werden.

Was heißt das: Radikale Demokratie

Das ist die Ausgangslage. Dem möchte ich ein Konzept von radikaler Demokratie entgegenstellen - ein linkes Gegenmodell. Ein zentraler Punkt dabei ist zu erklären - das ist mein erstes Anliegen - das ich mit Demokratie, wenn ich davon rede, tatsächlich eine substantielle - auch materiell - gleiche Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung und gleiche Teilhabe an der Gesellschaft meine. Das ist relativ wichtig, weil in der politischen Diskussion, die heute - aber auch schon länger - stattfindet, viele unter Demokratie so eine Art rechter Mehrheit verstehen. Demokratie ist: Da stimmt man mal drüber ab und was die Mehrheit sagt, das wird dann gemacht und die Anderen sind eben in der Minderheit gewesen. Was dabei rausgekommen ist, war halt eine demokratische Entscheidung. Genau das meine ich nicht, sondern den Anspruch von Demokratie, den ich meine, idealerweise eine Gesellschaft zu haben, in der tatsächlich alle zu einem größtmöglichen Maße in der Lage sind, teilzuhaben, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Das heißt eben, das auch nicht unbedingt auf gesamtgesellschaftlicher Ebene entschieden werden muß, sondern wenn wir hier von radikaler Demokratie sprechen dann meinen wir, daß möglichst viele Angelegenheiten im möglichst kleinen Rahmen erledigt werden sollten, oder daß Menschen über ihr Leben im möglichst großen Maße selbst bestimmen sollten. Beispiele wären hier welche Drogen Menschen nehmen oder wie sie mit anderen Menschen zusammenleben. Das muß meiner Einschätzung nach kein Gegenstand einer politischen Beschlußfassung sein, sondern das sollte jeder für sich selbst entscheiden können. Dieses Konzept einer radikalen Demokratie steht meiner Ansicht nach im krassen Widerspruch - das habe ich auch schon versucht im Reader zum Kongreß darzustellen - zu rechter Ideologie, weil es für rechte Ideologie unerträglich ist, das jeder selber größtmögliche eigene Freiheit hat und die Menschen sich ganz unterschiedliche Lebensformen aneignen. Ich glaube, daß ein grundsätzliches Element rechter Ideologie ein autoritätsbezogenes Denken ist und ihm ein Trend zur Anpassung an vorgegebene, zum Teil quasi natürliche, Wertvorstellungen - etwa was die Rolle von Männern und Frauen angeht - inhärent ist. Da könnte man nachher vielleicht mal drüber diskutieren, ob das tatsächlich bei einem modernen Rechtsextremismus in dem Maße noch vorhanden ist oder ob es da vielleicht Tendenzen gibt, das auch so etwas gerade aufbricht, gerade was klassische Rollenbilder angeht.
Ein guter Ansatz wäre auf der einen Seite, sich Freiräume, in denen gleichberechtigtes Miteinander möglich ist, wo nicht irgendwelche Autoritäten das Sagen haben zu erkämpfen bzw. Freiräume, die existieren, zu erhalten. Das ist idealerweise in selbstverwalteten Jugendzentren der Fall, aber was ich mir wünschen würde, ist, das solche Freiräume auch in anderen Bereichen erkämpft werden. Ein Beispiel dafür könnte die Schule sein. Das ist natürlich sehr schwierig, weil Schule an sich nicht gerade ein herrschaftsfreier Raum ist, sondern an sich eine Instanz, in der Autoritäten das Sagen haben und die letztlich auch gesellschaftlich die Funktion hat, bestimmte Strukturen zu reproduzieren. Trotzdem meine ich, daß da ein Ansatzpunkt existiert. Es ist so - da bin ich jetzt nicht ganz so im Bilde - das bundeslandspezifisch ganz unterschiedliche Mitbestimmungsmöglichkeiten und Freiräume für Schüler und Schülerinnen an Schulen existieren. Da meine ich aber, daß ein Eintreten für Demokratie, für eine gleichberechtigte Teilhabe an Entscheidungen, was an der Schule passiert, erstens eine sehr anschauliche Forderung ist, also die man Schülerinnen und Schülern, die da in weiten Teilen ihr Leben verbringen, gut vermitteln kann, daß es eigentlich gar nicht angemessen ist, daß ständig andere über ihre Köpfe entscheiden. Vielmehr angemessen wäre es, wenn sie selber die Entscheidungen treffen.
Und ich glaube zweitens, daß es auch Gestaltungsspielräume gibt, die natürlich nicht so weitreichend sind, daß man dem System völlig ausweichen könnte, aber doch so, das man Erfahrungsräume schaffen kann, das da ein gleichberechtigtes Miteinander möglich ist. Ich glaube, daß solche Erfahrungsräume der eine Punkt sind, der wichtig ist. Also die Erfahrung eines gleichberechtigten Miteinanders in Freiräumen, in denen nicht Autoritäten das Sagen haben, sind ein ganz wichtiger Punkt für Menschen, um auch die persönliche Erfahrung zu machen, daß es angenehmer ist für sie, so zu leben.
Das Zweite ist, daß man den Diskurs durchbrechen muß, daß dieser Wettbewerb, von dem ich geredet habe, ein Kampf aller gegen alle, gewissermaßen in der Gesellschaft und auch die ganze kapitalistische Ordnung also der freie Markt, der natürlich dem Zweck dient diesen Wettbewerb zu realisieren, daß das alles nicht gottgegeben ist und auch das es Alternativen gibt. Das ist ein ganz grundlegendes Problem, da muß man versuchen deutlich zu machen: Das muß nicht so sein, Gesellschaft kann auch anders funktionieren. Es können z.B. auch darüber Dinge in einer Gesellschaft produziert werden, darüber kann man auch demokratisch Entscheidungen treffen, das muß man nicht dem Markt überlassen. Das können sich aber mittlerweile ganz wenige Menschen vorstellen. Also ich glaube das ist der zweite Punkt.
Ein richtiger Ansatz, um gesellschaftlich heute etwas zu bewirken, muß darin liegen, dem Wettbewerbsdenken entgegenzuwirken. Das geht auf zwei Ebenen, einmal durch einen Diskurs auf der gesellschaftlichen Ebene, zum zweiten in dem man Erfahrungsräume schafft, die ohne einen solchen Wettbewerb auskommen, wo ein gleichberechtigtes Miteinander möglich ist.

Referat des BgR


Das zweite Referat werde ich in drei Teile unterteilen: Der erste Teil soll sein, was dieses Thema jetzt nun mit autonomer Antifapolitik zu tun hat, wie wir darauf kommen, wie wir dazu stehen, was Marc gerade vorgestellt hat, wie das im Prinzip funktioniert. Der zweite Teil soll darin bestehen, Probleme aufzuzeigen die dabei zwangsläufig auftreten, auch grundsätzliche Probleme. Und im dritten soll es um die Möglichkeiten gehen, die in so einem Projekt stecken und warum es notwendig erscheint.

Was hat das alles eigentlich mit uns zu tun?

Zum einen denke ich, daß die Einschätzung richtig ist, daß, wo ein rechter Konsens zu finden ist, auch immer - so ist es zumindest empirisch bei unserer Arbeit gewesen - Autoritätsdenken eine ganz starke Rolle spielt, und immer auch die Forderungen nach einem starken Staat zu verzeichnen waren und immer auch, ein Demokratiedefizit herrschte. Also nicht nur bei Leuten auf der Straße, bei irgendwelchen Faschos in irgendwelchen Jugendclubs, sondern ein Demokratiedefizit, das gesamtgesellschaftlich zu verzeichnen war. Ein Demokratiedefizit, das sich auch in den Institutionen des Staates gezeigt hat. Nun könnte man gegen so ein Demokratiedefizit, gegen solche autoritären Strukturen und Gesellschaftsvorstellungen sogar mit bürgerlichen Idealen argumentieren. Linksradikale Gruppen haben aber den Begriff des revolutionären Antifaschismus geprägt, um ihre Politik gegen diese gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse zu kennzeichnen, die in einer Antinazipolitik immer mitschwingt. Nun stellt sich die Frage, was bedeutet das, so eine Phrase vom Revolutionären Antifaschismus - also zunächst mal Phrase. Eine Antwort findet sich in der Broschüre der Antifaschistischen Aktion Berlin (AAB) Das Konzept Antifa. Ich zitiere: “Revolutionär bedeutet, die Ausrichtung auf grundsätzliche, fundamentale Umwälzung der bestehenden Lebensverhältnisse. Mit eingeschlossen ist dabei die Weigerung, sich auf die Spielregeln des Bestehenden einzulassen. Die einzige Zukunft, für die sich politische Anstrengung in welcher Form auch immer lohnt ist das gründlich Andere.“
Ich könnte das unterschreiben, ich weiß nicht wie es euch geht? Das Problem, das ich mit diesem Zitat habe, ist, das es erstens im Dunkeln läßt - also vieles im Dunkeln läßt - was diese grundlegenden Veränderungen sein sollen und wie die zustande kommen sollen. Das andere Problem ist, das es auch Gruppen gibt, wie z.B. das BgR, die sich nicht als revolutionäre Antifagruppen verstehen, die aber, im Vergleich etwa zur AAB, gar keine andere Praxis haben.
Was bedeutet das? Zunächst möchte ich einen anderen Ansatz vorschlagen, sich dem Thema zu nähern. Dieser andere Ansatz besteht darin, Widersprüche zu suchen, die eine Motivation für unsere Politik sein können. Einer dieser Widersprüche, der - so die These in dem Referat das ich hier gerade halte - grundlegend zu sein scheint, ist der Widerspruch in den unsere Politik zu einer allgemein bestehenden Herrschaft immer wieder gerät. Herrschaft bedeutet zum einen kapitalistische Herrschaft ganz klar. Da wird entscheiden, wie produziert und was produziert wird. Da wird über Leute entschieden, wie sie zu arbeiten haben, unter welchen Bedingungen sie ihr Leben reproduzieren können. Das ist ein großer Bereich, in dem in unserer Gesellschaft Herrschaft zu verzeichnen ist. Es ist Herrschaft aber auch in anderen Bereichen, außer im ökonomischen, zu verzeichnen z.B. im gesamten öffentlichen Bereich. Verwaltungsapparate üben dort Herrschaft aus - Bürokratien - das, was uns häufig als Sachzwänge gegenüber oder sagen wir besser, entgegengestellt wird, ist so ein Ausdruck von Herrschaft. Im privaten Bereich, genauso wie im öffentlichen Bereich, treten uns Traditionen und Ideologien gegenüber, die ebenfalls Ausdruck von Herrschaft sein können. An all diesen Punkten zeigt sich für uns immer wieder, daß sich die Machtfrage stellt. Immer dann, wenn wir versuchen, uns von Herrschaft zu emanzipieren und immer, wenn unsere Politik mit so einer Emanzipation verbunden ist, tritt uns die Herrschaft gegenüber. Das ist die Machtfrage. Unser Ziel dagegen, ist immer in gewisser Weise, Selbstbestimmung - autonomes Handeln - durchzusetzen. Und bei dem Versuch unsere eigenen Ideen, unsere eigenen Projekte zu verwirklichen, stellen wir eben genau das fest. Das wir zwangsläufig diese Erfahrung machen, der Herrschaft immer wieder gegenüber zu stehen, teilweise auch, als eine sehr sinnliche Erfahrung, einer Erfahrung, der wir nicht ausweichen können. Und das wiederum soll als Beleg für die These gelten, daß es sich hier um einen grundlegenden Widerspruch in der Gesellschaft handelt, denn auch, wenn ich jetzt die ganze Zeit von unserer Politik geredet habe, klar ist, das es nicht daran liegt, daß wir es sind, die eigene Projekte durchsetzen wollen und damit auf diesen Widerstand stoßen, sondern das es allen so gehen wird, die sich daran versuchen, eigene Vorstellungen, eigene Projekte, sofern sie nicht konform gehen mit dem, was besteht, zu verwirklichen.
Es ist für uns und alle, die ähnliches vorhaben, auch deshalb so ein drängender Widerspruch, weil er immer mit der Androhung oder auch durchgeführten Gewalt des Staates verbunden ist. Das kann man bei autonomen Jugendzentren sehen, die immer ein bißchen von der Gnade der jeweiligen Verwaltung leben bzw. wie sie politisch durchgesetzt werden. Und wenn die Gruppen, die diese Zentren politisch durchsetzen schwächer werden bzw. wenn in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ihre Position nicht günstig ist, dann passiert es ganz schnell, daß eben dort gewaltsam Räumungen durchgesetzt und diese Zentren geschlossen werden. Natürlich läßt sich dieses Beispiel der Jugendzentren auf alle möglichen Bereiche der Politik übertragen, in denen wir eigene Projekte verwirklichen.
Die Alternative, die wir dazu hätten, uns dieser Auseinandersetzung zu stellen, ist nur eine Scheinalternative, die bedeutet, daß wir versuchen müßten, uns in das Bestehende zu integrieren, die Spielregeln zu akzeptieren. Und das ist ja das, was schon in der AAB-Broschüre steht, wofür sich Politik eigentlich nicht lohnt. Soweit also das erst mal, warum so ein Eintreten für Selbstbestimmung - und Selbstbestimmung soll hier als ein Synonym für Radikale Demokratie verstanden werden - wieso sich das für uns lohnt, wieso das für uns notwendig ist.

Das problematische der Selbstorganisation

Jetzt zum zweiten Teil, zu den Problemen. In Deutschland von Selbstbestimmung zu reden, ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Wir reden hier nicht von solchen Sachen wie Volksentscheid. Die Diskussion über die Volksentscheide hat - glaube ich - ziemlich deutlich gemacht, wo ein schwerwiegendes Problem liegt. Würden heute in Deutschland Volksentscheide eingeführt werden, dann - unabhängig davon, daß es sich um Mehrheitsentscheide handelt - würde dieses Element von Selbstbestimmung dazu führen, das einem Angst und Bange werden könnte. Rassismus wäre sofort Politik, die Todesstrafe würde wieder eingeführt werden. Es ist davon auszugehen, daß eine reine Volksherrschaft in Deutschland, also hier, wo wir Politik machen, daß es einem davor mehr grauen müßte, als vor dem, was es jetzt ohnehin schon gibt.
Abgesehen davon gibt es in diesem Zusammenhang noch ein zweites Problem, nämlich daß das gar nicht so ohne weiteres umzusetzen wäre. Wenn man die Leute auf der Straße fragen würde, würden sie immer sagen, daß sie lieber beherrscht werden würden. Hier in Leipzig und überhaupt im ganzen Osten sind diese Erfahrungen vor 10 Jahren gemacht worden, da - unabhängig wie man das jetzt bewertet, was da für andere Kräfte noch im Hintergrund standen, die historisch wirksam waren - war es auf jeden Fall so, daß die Mehrheit der Bevölkerung gesagt hat: Alles, bloß nicht dieses Chaos, laßt so schnell wie möglich das neue System über uns hereinbrechen, damit endlich wieder Ordnung herrscht. Wenn hier also in diesem Zusammenhang darüber geredet werden soll, wogegen wir sind, dann muß eine Unterscheidung eingeführt werden zwischen dem üblichen Reden von den Herrschenden, um die geht es glaub ich weniger, es geht vielmehr um das Herrschende, d.h. was uns hier allgemein umgibt an Bedingungen für unsere Politik. Und etwas anderes folgt natürlich auch noch aus dem, was ich gerade gesagt habe, also dieser Problematik, das die Selbstbestimmung des deutschen Volkes nicht gerade ein Ziel sein kann. Ein Prinzip der Selbstbestimmung muß auf jeden Fall auf Werte zurückgreifen, die erhalten bleiben müssen. Und kurioserweise oder vielleicht auch nicht kurioserweise sind es solche bürgerlichen Werte wie Universalismus. Gleichberechtigung ist ja zunächst mal ein grundsätzlich bürgerlicher Wert. Wir müssen uns fragen, welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die bürgerlichen Werte. Sie müssen auf jeden Fall verteidigt werden, gegen Leute, die sie von rechts angreifen, da kann es überhaupt keine Frage geben. Auf der anderen Seite muß man sich natürlich im klaren sein, das sie eine sehr starke legitimierende Funktion haben.
Eine andere Frage, die ich daran interessant finde, ist, ob diese bürgerlichen Werte nicht Ideale sind, die immer wieder von einer bürgerlichen Demokratie vor sich her getragen werden, wo sich alle einig sind, sie sind nicht verwirklicht und ob sie in diesem Fall nicht auch ein Potential darstellen, daß sich gegen diese bürgerliche Demokratie richten kann, aus dem einfachen Grund, weil sie ja offiziell akzeptiert sind. Das wie gesagt, sind Punkte, die diskutiert werden müßten.
Ein zweites Problem, das sich in dem Zusammenhang ergibt, ist, daß Selbstbestimmung als politisches Projekt eine Form braucht, die Form der Selbstorganisation. So schwammig erst einmal formuliert. Die Selbstorganisation hat ihre problematische Seite. Wie jede Organisationsform oder wie jede Form, die darauf angelegt ist, sich zu erhalten, um eben Politik möglich zu machen, birgt sie die Gefahr zum Selbstzweck zu werden und am Ende der eigentliche Wert zu sein, den es zu erhalten gilt. Also gerade solche Sachen, die in Richtung einer Organisierungsdebatte gehen, sind in gewisser Weise unverzichtbar für eine Politik, die auf Selbstbestimmung steht. Denn wie anders sollte so eine Politik gemacht werden, wenn nicht in eigenen Formen. Auf der anderen Seite ist die Betonung der Organisation, der Notwendigkeit der Organisation, ein Zungenschlag, der die Gefahr in sich birgt, daß die Organisation als das Wichtige daran gilt.
In dem Zusammenhang stellen sich die klassischen Probleme, die mit Organisation schon lange verbunden werden, daß Organisationen die Tendenz haben, vereinheitlichend zu wirken, sowohl was die Aktionen betrifft, als auch die grundsätzlichen Ausgangspunkte. Organisationen können außerdem, gerade wenn sie sich in Opposition befinden, einfach nur darüber definiert werden, das sie sich negativ bestimmen, daß sie gegen etwas gerichtet sind, das sie also so ein innen und außen konstruieren und dann nicht mehr als produktiver politischer Raum verstanden werden. Natürlich ist für uns auch die Frage, wenn wir eine Organisation als Form finden, ob wir damit nicht versteckt das einschleppen, was allgemein schon existiert, also das allgemein gültige in der Gesellschaft durch die Form, die wir ja auch nicht so ohne weiteres neu erfinden, in unsere Politik Einzug erhält. Auch alle möglichen Fragen, die mit Machtkonstellationen verbunden sind, sind klassische Fragen, die sich eine Organisationsform stellen lassen muß.
Beim Projekt Selbstbestimmung/ Radikale Demokratie ist klar, daß eine Organisationsform es schaffen müßte, dissidente Positionen einzubeziehen und nicht aus sich auszuschließen und das wäre ja gerade der Punkt, der das politische Projekt Selbstbestimmung vorangetrieben hat, der also von der Organisationsform berücksichtigt werden müßte.
Ein drittes Problem ist - ich bin immer noch bei Problemen von Radikaler Demokratie/Selbstbestimmung - daß dieses Selbst überbetont werden könnte und das Selbst einfach zu einem Rückzug aus der Gesellschaft werden kann. Das Schlagwort das es da gibt, sind Landkommunen, wo Leute selbstbestimmt ganz glücklich zusammenleben, aber raus sind aus der Gesellschaft. Zu DDR-Zeiten war es ein gängiges Thema davon zu sprechen, daß eine Nischenkultur herrscht, bei der sich Leute aus der Gesellschaft zurückziehen, aus den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. In solchen Nischen dann Selbstbestimmung zu leben ist nicht das, was uns hier interessieren sollte.
Und dann gibt es noch ein viertes Problem das ganz eng damit zusammenhängt. Daß Leute dazu neigen, in solche Nischen zu gehen und sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen, hängt damit zusammen, daß diese Gesellschaft eine sehr große Macht besitzt, einfach durch die Faktizität, die sie hat, also die Wirklichkeit, die uns umgibt, die uns immer wieder zwingt, bestimmte Sachen zu machen, die gar nicht mit dem zusammenpassen, was wir uns vorstellen würden, wenn wir eine Utopie formulieren müßten. Es gibt den Zwang der realen Verhältnisse, der sich zum Beispiel in den kapitalistischen Beziehungen ausdrückt. Ich kann hier lange gegen Lohnarbeít reden und bin am Ende, doch dazu gezwungen, sie auszuführen. Dieser Zwang und diese Stärke der Realität herrscht in allen Lebensbereichen.
Selbstbestimmung/ Radikale Demokratie kann also nur als Ziel formuliert werden, das utopisch ist. Eine Utopie wird dieser unheimlich vielfältigen zwingenden Welt, die uns gegenübertritt, nie so ausgemalt gegenübertreten können, daß sie damit konkurrieren könnte.
Soviel zu dem Problem und ich komme jetzt zum dritten Teil: Was ist eigentlich - trotzdem - die Notwendigkeit und die Möglichkeit ?

Warum dann überhaupt?

Bezogen auf das letzte Problem, das ich genannt habe, ist es so, daß radikale Demokratie einen Lösungsansatz bietet. Entwicklung politischer Praxis und Organisation hilft dagegen, sich nur auf Utopien zurückziehen zu können, die letztendlich an der Realität immer scheitern müssen, denn wenn ich politische Praxis entwickle, wenn ich Organisationsformen entwickle, dann entwickle ich gleichzeitig ein Stück Realität, die sich in die Gesamtrealität einfügt. Es entsteht eine Entwicklung von Veränderungspotentialen. Dazu ist es notwendig, um die genannten Probleme zu berücksichtigen, bei dieser Form von Selbstbestimmung/ Selbstorganisation ganz klar ein Primat der Politik zu setzen und zwar ein Primat auf eine Politik, die authentisch ist. Stellvertreterpolitik kann kein Element von selbstbestimmter Politik sein. Nun spreche ich hier vom Primat der Politik, von der Wichtigkeit des Politischen, dem Räume eröffnet werden sollen. Was aber soll das eigentlich bedeuten?
Wenn hier vom Politischen gesprochen wird, dann ist gemeint, das es um konkrete Auseinandersetzungen mit Widersprüchen in der Gesellschaft geht. Diese Widersprüche müssen der Inhalt der jeweiligen Organisationsform sein, d.h. die Form ist dazu da, nicht immer wieder von vorn anfangen zu müssen, sie hat die Vorteile, bestehen zu können, politische Räume dauerhaft zu eröffnen. Sie muß aber immer wieder davor zurücktreten, das es diesen jeweiligen Inhalt der Politik geben muß. Wenn es uns gelingt, eine Politik zu machen, die an diesen Widersprüchen, die unsere eigenen Widersprüche sind, orientiert ist, hat das den Vorteil, daß sich die Motivationsfrage überhaupt nicht mehr stellt, weil es eben die Widersprüche sind, die wir lösen wollen. Zum anderen eben auch, das wir die Erfahrbarkeit unserer Politik und ihre Vermittelbarkeit gewährleisten. Zumindest prinzipiell, also Vermittlungsprobleme wird es trotzdem geben. Von konkreten Auseinandersetzungen zu sprechen, birgt natürlich die Gefahr eines Mißverständnisses in sich. Es geht nicht darum, immer im Konkreten verhaftet zu bleiben, d.h. im eigenen Stadtteil, am eigenen Kleinkram, die eigene Politik auszurichten - das ist nicht gemeint. Natürlich soll es ein Abstraktionsniveau geben, natürlich geht es darum, auch die eigene Politik auf einer abstrakteren Stufe weiterzuführen. Natürlich ergeben sich dort auch die Möglichkeiten - dazu gab es vorhin diese Rede gegen die Stellvertreterpolitik - Solidarität auszuüben. Einfach weil man sieht, das es bei einer Politik, die etwas mit uns zu tun hat, die auch mit unserer eigenen Politik zu tun hat, Übereinstimmungen gibt. Das ist das, was alles erhalten bleiben soll, aber diese Politik sollte sich eben nicht verselbständigen. Das Abstrakte sollte sich nicht verselbständigen, sollte gebunden bleiben an konkrete Widersprüche, die unsere Widersprüche sind. Das Verhältnis von Politik und Organisation sollte dieses sein, daß die politischen Auseinandersetzungen, der jeweilige Inhalt, eine Triebfeder für die Entwicklung der jeweiligen Organisation ist. Ich habe schon gesagt, daß es in diesem Modell dann darum gehen würde, das die Organisation deshalb entsteht, weil wir Politik machen wollen. Die Organisation sollte sich damit verändern, wie wir Politik machen, eben aus diesen Erwägungen heraus. Noch ein Vorteil, den ich gerne erwähnen möchte ist, daß wir mit so einem Politikverständnis nicht mehr darauf angewiesen sind, Politik für eine Utopie von morgen zu machen, sondern daß wir im Hier und Jetzt, Politik für sofort machen können und das wir uns nicht mehr fragen müssen, erlebe ich diese Veränderungen überhaupt noch, sondern diese politischen Ziele sind dann sofort erkennbar.
Die große Schlußfolgerung daraus wäre, daß die Antifabewegung in den letzten 10 Jahren ihr linksradikales Potential durch ihre Form behalten hat, also die Form der Selbstorganisation, die Durchsetzung von Selbstbestimmung in Antifagruppen, auch als Selbstbestimmung gegen das Herrschende. Sie konnte diese Form nur behalten, weil sie sich auf diese Antinazi-Auseinandersetzungen eingelassen hat. Und andererseits, daß diese Auseinandersetzungen auch nur dadurch möglich waren, weil die Antifa diese linksradikale Form behalten hat. Ich will es jetzt nicht im Detail ausführen, aber ich denke, evident wird so etwas dadurch, daß man sich andere linksradikale Ansätze anguckt, die gescheitert sind, weil sie die konkrete Auseinandersetzungen nicht mehr gesucht haben. Andererseits sind Leute, die Antifapolitik gemacht haben - aber nicht in einem linksradikalen Ansatz - irgendwann stecken geblieben, auch mit diesem Antifaansatz, weil sie ein Manko bei der Form hatten.
Das ist die positive Lehre der letzten 10 Jahre und um auf die revolutionäre Politik zurückzukommen: Der Ansatz eröffnet unserer Politik eine Perspektive. Weit in die Ferne geschaut mag es auch sein, daß es irgendwann einmal eine revolutionäre Perspektive wird. Wir sind jetzt nicht an dem Punkt, sagen zu können: Wir haben so viele gesellschaftliche Auseinandersetzungen, daß jetzt die gesellschaftliche Umwälzung bevorsteht, deswegen ist es beim BgR so, das wir nicht davon sprechen, revolutionäre Antifapolitik zu machen.


3.Die Diskussion

Moderator: Um die Diskussion jetzt etwas zu strukturieren würde ich vorschlagen am Anfang erst Sachfragen zu stellen.

Beitrag aus dem Publikum 1: Ich habe eine Frage ans BgR, daß uns permanent Auseinandersetzungen begegnen, wo die Machtfrage gestellt wird. Das leuchtet mir überhaupt nicht ein. Wir begegnen zwar Herrschaft andauernd, aber daß jedesmal, wenn wir in einen Konflikt geraten, die Machtfrage gestellt wird? Also gut - vielleicht interpretierst du das Wort anders - aber, wenn ich z.B. ein Joint rauche und dann erwischt mich die Polizei, da habe ich überhaupt keine Machtfrage gestellt, sondern da werde ich einfach für ein dissidentes Verhalten bestraft.

BgR: Das ist in der Tat ein Mißverständnis. Es ist mein Fehler an dem Punkt von Machtfrage zu sprechen, weil der Begriff eindeutig so besetzt ist, wie du es gemeint hast. Was ich meinte, ist, daß wir dort mit Macht konfrontiert sind, nicht in dem Sinne, daß die Frage gestellt wird: Wer übernimmt jetzt die Macht?

Beitrag 2: Ich habe eine Frage ans BgR. Du hast vorhin bei Problemen von Gruppen den Begriff dissidentes Verhalten erwähnt, den du jetzt auch gerade noch mal benutzt hast. Ich wollte dich bitten, den zu konkretisieren und zu erläutern.

BgR: Dissidentes Verhalten: Damit ist - wenn ich es übersetzen würde - abweichendes Verhalten gemeint. Wir begreifen uns ja selber in dieser Gesellschaft als dissident, d.h. wir nehmen Positionen ein, die nicht im gesellschaftlichen Mainstream liegen und sehen uns dabei in einer Gegenposition Mehr ist damit nicht gemeint.

Beitrag 3: Ihr habt vorhin von bürgerlichen Werten gesprochen. Gehe ich recht in der Annahme, daß es sich um die klassischen Werte der französischen Revolution handelt: Freiheit, Gleichheit und - ich nenn's jetzt mal - Brüderlichkeit, obwohl die Leute aus meiner Stadt mich dafür steinigen werden. Dort sage ich immer Solidarität, aber das drückt glaube ich das Gleiche aus. Diese bürgerlichen Werte - was glaubt ihr - könnte der Versuch einer revolutionären Definition dieser bürgerlichen Werte fruchten? Glaubt ihr, daß wir daraus - wenn es uns gelingt, diese Werte revolutionär zu definieren und darüber eine Kritik an den kapitalistischen Wertvorstellungen zu definieren - auch wieder in eine gesamtgesellschaftliche Relevanz eintreten, weil wir uns nicht mehr nur auf die Faschos konzentrieren, sondern wirklich wieder die Gesamtgesellschaft in Frage stellen?
Wobei ich darauf hinweisen möchte - das ist ein ganz interessanter Fakt - den Faschos drehen sich bei diesen drei Worten immer die Fußnägel um. Die faschistische Bewegung hat drei Gegenworte dazu kreiert, das waren: arbeite, gehorche, kämpfe. Das sind die Basisworte des italienischen Faschismus - als Gegenentwurf.
Ich hatte folgendes Erlebnis gehabt, um das ganze kurz abzuschließen: Ich hatte eine Diskussion in einer Buchhandlung mit einem, ich würde mal sagen, bürgerlich-liberalen Menschen, den ich eben mit diesen drei Worten konfrontiert habe und seine Antwort war, auf die faschistischen: "Ja, das macht doch eine Nation groß." [Raunen im Saal]
Und dann habe ich ihm gesagt - weil ich echt sauer war, genauso wie ihr - ja, was hältst du denn von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Da hat er wirklich geschluckt, weil er merkte, ja Scheiße, ich beziehe meine Freiheiten auf diese demokratischen Ideale und die anderen, das ist Sklaverei.

M. Mulia: Ich nehme an, daß beide Referenten, wenn sie von den bürgerlichen Idealen sprechen, die Ideale der französischen Revolution meinen. Ich glaube, daß es tatsächlich sehr fruchtbar ist, über diese zu diskutieren. Es gibt nämlich ein sehr unterschiedliches Verständnis davon. Das hängt auch damit zusammen, wie die Einschätzung davon ist, ob sie eingelöst sind oder nicht. Ich würde sagen, daß sie keinesfalls eingelöst sind, aber das hängt ganz stark davon ab, was man unter Freiheit versteht oder unter Gleichheit, also was - etwas vereinfacht - die materielle Seite meint. Eine tatsächliche materielle Gleichheit zwischen den Menschen und tatsächlich auch dieselbe materielle Freiheit für alle.
Nur, um das noch ganz kurz zu erläutern, weil das vielleicht nicht so ganz gängig ist: Mit materieller Freiheit meine ich, daß nicht nur die Menschen das Recht haben, zu studieren, sondern ihnen das in gleicher finanzieller Art und Weise möglich ist. Wenn man anfängt so zu diskutieren, wird man schnell feststellen, daß man keineswegs in unserer Gesellschaft einen Konsens darüber hat, daß das Ideale von allen sind, sondern da glaube ich, kann man eine fruchtbare Diskussion führen.

BgR: Ich habe eine andere Position dazu. Natürlich sind diese Schlagworte im weiteren Sinne gemeint. Natürlich ist die bürgerlichen Freiheitsrechte des Individuums gemeint, aber ich würde davor warnen, sich einfach nur positiv auf diese bürgerlichen Werte zu beziehen. Das Problem, das mit ihnen herrscht, ist, daß sie zur Legitimation dienen, daß sie eine Legimitationsfunktion haben, und dies wahrscheinlich sogar in ihrem innersten Wesen nach. Zu ihnen gehört der Begriff des bürgerlichen Individuums, der sich durchaus kritisieren läßt, der auch schon von links kritisiert worden ist und deshalb finde ich es gefährlich, einfach nur zu sagen: Laßt uns doch den besseren bürgerlichen Staat machen. Hier sind grundsätzliche Probleme zu verorten, die so ein Projekt wie Selbstbestimmung auch nicht ohne weiteres möglich machen. Natürlich ist es so, daß diese Werte in einer bestimmten Interpretation uneingelöst sind, daß sie dadurch immer die Möglichkeit eröffnen, in der Vermittlung eigener Politik, einen zentralen Punkt spielen zu können. Weil das der Punkt ist, an dem alle glauben, die gemeinsame Sprache zu sprechen und man sich auf einen positiven Kanon beziehen kann. Das heißt, wenn ich versuche, Demonstrationsrecht oder das Recht, mich politisch äußern zu können, durchzusetzen gegen Repression, dann habe ich durch sie ein starkes Mittel in der Hand, wo ich Leute erreichen kann, die auch so ein Verständnis von bürgerlichen Freiheitswerten haben. Daraus aber eine revolutionäre Perspektive machen zu wollen, da wäre ich eher vorsichtig.

Beitrag 4: Da kann ich weitermachen, weil so wie ihr die radikale Demokratie beschreibt, hört sich das vor allem nach einer radikalen Umdefinition an. Also, um noch mal auf diese französischen Revolutionswerte zu kommen, wie wollt ihr den Leuten erklären, daß Freiheit nicht die Freiheit ist, das zu machen, was man sich leisten kann, sondern eine universelle Freiheit ist, die gesichert wird, durch eine materielle Gleichheit und nicht eine Gleichheit vor dem Gesetz. Das Brüderlichkeit eine universelle Solidarität bedeutet und nicht Rentenbeiträge. Wenn ihr die französischen Revolutionswerte auf diese Art und Weise umdeuten wollt - ich kann mir rein praktisch und propagandistisch nicht vorstellen, daß das jemand versteht - oder auch nur, wie ihr dann mit Institutionen wie Parlamenten umgehen wollt, die mit Selbstbestimmung einfach gar nichts zu tun haben. Der Begriff Radikale Demokratie ist 1994 auch von den Grünen im Wahlkampf verwandt worden, von Einzelnen jedenfalls. Ich kann damit nichts anfangen und verstehe nicht, wie ihr euch vorstellen könnt, daß das klappen könnte.

BgR: Ich denke, daß es in dem Zusammenhang eine gesellschaftliche Entwicklung gibt, die weggeht von einem bürgerlichen Humanismus, den überhaupt noch als etwas anderes zu begreifen als links und ich denke - ich bin kein Historiker, ich kann das jetzt nicht belegen - es war mal anders. Es war mal so, daß es in bürgerlichen Zusammenhängen üblich war, von einem humanistischen Ideal zu sprechen. Ich denke, das ist eines der Probleme, die wir haben, daß eine Möglichkeit an gesellschaftliche Diskurse anzuschließen, die sich positiv auf diese Werte beziehen, immer mehr verschwindet, was identisch ist, mit dem Verschwinden einer liberalen Öffentlichkeit. Das Verschwinden solcher Diskurse ist auch bezeichnend für das, was wir häufig als Rechtsentwicklung bezeichnen. Das bedeutet auch, daß es für viele Leute gar nicht mehr möglich ist, sich unter klassischen bürgerlichen Idealen etwas anderes vorzustellen als eine linke Position. Das ist aber nicht immer so gewesen.

M. Mulia: Wir haben heute morgen schon über Nazikultur - Diebstahl linker Codes geredet. Das was da gesagt wurde, finde ich völlig berechtigt. Es ist tatsächlich ein Problem, wenn ich von Demokratie, Freiheit und solchen Dingen rede. Das sind keine Begriffe, über die ich die Definitionsmacht habe, sondern es handelt sich um Begriffe, die sich in einem ständigen gesellschaftlichen Wandel befinden. Der Begriff der Radikaldemokratie ist einer, der selbst schon ganz alt ist, der in den zwanziger Jahren schon von anderen verwendet worden ist. In dem Fall würde ich sagen, das waren die Guten und da kann ich mich positiv darauf beziehen. Dieser grundsätzliche Kampf um Begriffe finde ich auf der einen Seite schwierig, wenn man tatsächlich falsch verstanden wird. Auf der anderen Seite finde ich es gerade in dem Bereich, der drei jetzt hier genannten Begriffe Demokratie, Gleichheit, Freiheit wichtig, die Auseinandersetzung zu führen. Das sind Begriffe, die sollte man nicht ohne weiteres aufgeben, weil sie in ihrer Substanz, in die richtige Richtung weisen. Jedenfalls entsprechen sie der Vorstellung einer Gesellschaft, wie ich sie haben will. Ich habe ja auch gesagt, daß ich Demokratie substantiell und nicht als reine Verfahrensregel begreife und finde es keine gute Lösung, wenn ich mir ständig neue Begriffe ausdenken muß.

Beitrag 5: Ihr habt euch - beide Referenten - an einer Analyse versucht, und da möchte ich was zu sagen, weil da war ich sehr unzufrieden. Zum einen hat Marc eine Faschismusanalyse aus dem Hut gezaubert, die den Verteilungskampf im neoliberalen Standortwettbewerb ursächlich für den Nationalismus gemacht hat. Und das war auch das einzige, worüber er in dem Zusammenhang geredet hat. Das würde bedeuten, daß es vor den Globalisierungsprozessen in der alten BRD und erst recht in der DDR, es keinen Nationalismus hätte geben dürfen. Das erklärt meiner Meinung nach, überhaupt nicht den Nationalismus, das ist eine völlig ökonomistische Sichtweise.
Ähnlich kritisieren muß ich den Beitrag des Genossen vom BgR: Du hast dich am Begriff Herrschaft versucht, und da hast du gesagt: Es gibt drei Ebenen, auf denen wir mit Herrschaft konfrontiert sind. Das Eine wäre die Ökonomie, die Produktion, Arbeit, Betriebe. Das andere wäre Bürokratie und Verwaltung und dann hast du gesagt, irgendwie im privaten Bereich und dann hast du noch so einen halben Satz gesagt, das habe ich dann akustisch nicht verstanden: Das revolutionäre Ziel sei, uns von Herrschaft zu emanzipieren und das Herrschende, das seien die Bedingungen, die uns allgemein umgeben. Das ist ein Herrschaftsbegriff, ich weiß nicht, wo du den her hast? Den hätte ich von euch jedenfalls nicht erwartet.
Herrschaft geht quer durch die gesamte Gesellschaft, sie betrifft uns alle, es gibt Herrschaftsverhältnisse auf allen Ebenen, und wir sind alle auch Teil dieser Herrschaft. Du hast das so dargestellt, als müßten wir uns einfach dagegenstellen und uns von der Herrschaft befreien, aber, daß das auch was mit uns zu tun hat, das wir nicht nur Opfer, sondern auch Täter dieser Herrschaft sind, das ist da völlig runtergefallen. Das ist doch wohl das Mindeste, auf das wir uns hier einigen sollten.
Beifall im Saal

Beitrag 6: Ein bürgerlicher Theoretiker, nämlich Hegel, hat mal gesagt: "Nur das Vernünftige ist wirklich und nur das Wirkliche ist vernünftig." Damit meinte er, die bürgerlichen Ideale sind im preußischen Staat wunderbar verwirklicht. Das ist auch in der BRD so, würde ich dazu sagen. Nur im Unterschied zu Hegel, finde ich das nicht besonders toll. Klar Marc, du hast auch gesagt: Diese Gleichheit, die da verwirklicht ist, ist nur eine formelle. Da kann jeder Millionär unter Brücken schlafen und jeder Penner kann sich eine Villa kaufen. Was du dagegengesetzt hast, war so etwas wie eine Chancengleichheit, eine materielle Gleichheit. Jetzt ist das nicht unbedingt das Gleiche. Eine Chance ist nicht gerade eine Materie. Unter einer Chancengleichheit stelle ich mir vor, was die PDS oder die Sozialdemokratie früher gefordert hat: gleichen Zugang zu Bildungschancen usw. So ein klassisch sozialdemokratisches Programm. Unter einer materiellen Gleichheit, stelle ich mir ein bißchen was anderes vor. Du hast in dem Zusammenhang gefordert, das Eigentum anzugreifen, wie doch den Markt abschaffen. Mir kam das so rüber, wie: Das ist eine Forderung an den Staat, der soll da mal ein bißchen mehr sozialer sein. Und zwar nicht nur in der Hinsicht, daß er die Ergebnisse des Marktes immer wieder dahingehend korrigiert, daß die, die am Markt nicht so viel reißen, wenigstens überleben dürfen, wie der Sozialstaat das heute macht, sondern daß Sozial- und Wirtschaftspolitik auch wirklich eins ist. Das ist genau das, was im Realsozialismus auch Programm war und gemacht wurde, da war Sozial- und Wirtschaftspolitik eins. Da frage ich mich, was dein Gegenmodell ist, weil du meintest, man müßte linke Gegenmodelle aufstellen. Das bewegt sich für mich, zwischen SED und PDS [M. Mulia lacht]. Es ist auch kein weiter Schritt von einem zum anderen, hat man ja historisch gesehen. Auf solche linken Gegenmodelle kann ich verzichten.
Ich will erst mal gar kein Gegenmodell aufstellen, sondern ich habe den Willen diese Gesellschaft zu beseitigen, also Kapital zu beseitigen. Von den beiden Dingen habt ihr aber komischerweise sehr wenig geredet.

M. Mulia: Es gingen ja relativ viele Fragen an mich, ich fang mal an. Daß das meine Faschismustheorie sei, daß der Neoliberalismus die Ursache des Faschismus sei, da bin ich tatsächlich falsch verstanden worden. Ich wollte sagen, daß die Ideologie, die mit dem Neoliberalismus verknüpft ist, daß er ein Kampf aller gegen alle ist, ein guter Nährboden für Nationalismus ist. Das war meine These. Das ist kein Zufall, daß in dieser Zeit des wachsenden Wettbewerbs, der Durchsetzung dieser Ideologie, rechtsextreme Gruppen Zulauf finden, und rechtsextreme Orientierungen zunehmen. Das war das, was ich zum Ausdruck bringen wollte.
Zu 6: Natürlich ist materielle Freiheit ein Angriff auf Eigentum und den Markt. Es wundert mich, wenn man das anders verstehen kann. Ich habe versucht, deutlich zu machen, daß z.B. ein grundsätzlich größtmöglicher Anspruch gleichermaßen die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen über den Markt nicht realisierbar sein wird. Das Gegenmodell, wie das realisierbar sein könnte, ist, daß die Menschen selbst drüber entscheiden. Bestimmte Entscheidungen insbesondere die über Kollektivgüter - mit Kollektivgüter meine ich jetzt öffentliches Transportwesen, Energieerzeugung, also das, was man jetzt nicht zu dritt klären kann, sondern wo man im größeren Rahmen gesellschaftliche Entscheidungen treffen muß - sollten nicht einfach auf dem Mehrheitswege getroffen werden, sondern die sollten so, daß jeder in einem größtmöglichen Maße mit seinen Bedürfnissen und Interessen Berücksichtigung findet. Das ist jetzt etwas abstrakt gesprochen, da habe ich, genau wie du, offensichtlich keine ganz konkrete Vorstellung, wie das umzusetzen ist.
Aber im Unterschied zu dir, glaube ich, daß es wichtig ist, in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung eine grundsätzliche, wenn auch etwas abstrakte, utopische Vorstellung zu haben, um sagen zu können, wo man in etwa hin will. Ich glaube, daß bei aller richtigen - da liegen wir möglicherweise gar nicht so weit auseinander - bei aller richtigen Kritik an der Gesellschaft, daß das eine Gesellschaft ist, in der letztlich die große Mehrheit ausgebeutet wird, daß das systembedingt ist, durch den Kapitalismus. Das ist alles richtig. Aber durch den bloßen Hinweis darauf, wird man keine Veränderung herbeiführen können, weil das nur dann gelingt, wenn ein relevanter Teil der Gesellschaft erkennt, daß es anders gehen könnte. Das ist ein bißchen eine Glaubensfrage.
Im Moment sieht es mir sehr stark danach aus, als ob fast die komplette Gesellschaft die Vorstellung hat, daß es gar nicht anders geht, als so wie wir heute leben. Und da muß man einbrechen, und das ist genau ein Grund, warum ich so ein Konzept von konkreten Demokratisierungsforderungen, die hoffentlich auch konkrete Anschauungsbeispiele liefern, wie demokratisches Zusammenleben möglich ist, das so etwas notwendig ist, um tatsächlich gesellschaftlich etwas zu bewegen.
BgR: Was Marc gerade erzählt hat, ist ein gutes Beispiel dafür, was ich vorhin meinte, mit einem Reden über Politik, das utopisch ist und den Nachteil hat, den konkreten Boden letztendlich zu verlieren und nur noch aufs Morgen zu verweisen. Ich denke, das hat gleichzeitig auch was mit der Frage zu tun, die von 5 nach der Herrschaft gestellt wurde. Ich bin mir nicht 100 Prozent sicher, ob ich verstanden habe, aus welcher Richtung die Kritik kam. Die Kritik hieß, daß wir nicht sagen, daß alle Leute Herrschaft ausüben und Herrschaft erfahren. An dem Herrschaftsbegriff wurde kritisiert, das wir alle Täter und Opfer sind, daß das hätte gesagt werden müssen. In der Tat haben wir bei der Vorbereitung dieses Referates diese Diskussion geführt, ob das nicht so sein müßte und haben uns dann auf eine Fußnote geeinigt, die im Vorbereitungsreader nachzulesen ist. [Gelächter im Saal]
Die Erfahrungen des Beherrschtwerdens sind individuell. Die Ausübung von Herrschaft scheint ein komplexeres Phänomen zu sein, das sehr stark verknüpft ist mit Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse. Da die Reproduktion in der Gesamtgesellschaft stattfindet, ist es so, daß diese Herrschaftsverhältnisse in der Gesamtgesellschaft stattfinden. Trotzdem haben wir uns dagegen entschieden, explizit zu schreiben, daß wir alle Täter und Opfer sind, denn es scheint notwendig, zu sagen, daß es an bestimmten Punkten einfach Leute gibt, die Täter sind, und dann eben auch Leute, die Opfer sind und daß es Leute gibt, die signifikant mehr Herrschaft ausüben als andere. "Leute" ist eigentlich schon viel zu personalisierend, daß habe ich vorhin versucht zu umgehen, deswegen habe ich von "dem Herrschenden" gesprochen. Wenn ich es hier vermieden habe, davon zu sprechen, wer eigentlich diejenigen sind, die Herrschaft ausüben, geht es darum, gerade nicht so einen Begriff zu haben, der das nur auf die offensichtlichen Repräsentanten, irgendwelche Firmenchefs etc. beschränkt. Andererseits finden wir es aber wichtig - das wurde auch im Einleitungsreferat schon gesagt - individuelle Verantwortung festzuhalten. Es gibt immer die Möglichkeit, nein zu sagen und sich dagegen zu stellen. Es ist niemand gezwungen, Herrschaft auszuüben. Das ist die individuelle Verantwortung, die würden wir gern festhalten. Ist das jetzt besser? Nein?
[Nachtrag BgR: Um den hier verwendeten Herrschaftsbegriff an einem Beispiel zu verdeutlichen, folgendes: Wenn davon die Rede ist, daß nicht alle Opfer und Täter sind, meint dies den Kontext des Bezogenseins auf den selben Sachverhalt. Wenn in der Asyldebatte Anfang der 90'er der deutsche Mob zusammen mit der deutschen Politik Herrschaft ausübte, so übte er Herrschaft über Flüchtlinge aus. Der Fakt, daß auch Flüchtlinge in anderen Zusammenhängen Macht ausüben, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Zu beachten ist auch, daß, um beim Beispiel zu bleiben, "Deutsche" innerhalb dieses Diskurses und seiner Umsetzung, signifikant mehr Macht haben Herrschaft auszuüben, als Flüchtlinge, welche faktisch die alleinigen Betroffenen sind.]

Beitrag 7: Das Gefühl was mich beschleicht ist, daß das hier eine Diskussion ist, die auf der Grundlage von Annahmen beruht, die für mich Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre liegen. Die damit zu tun haben: wir können noch was reißen. Ich habe das Gefühl, wir sind eine kleine, kleine Nadel, die versucht eine große Blase zu überzeugen, etwas zu tun, was wir gut finden, und frage mich: Ist es das Konzept, was es sein kann, was in der total komplexen Welt überhaupt noch was ändern kann? Und wie soll es funktionieren? Wir haben keinen Gegenentwurf zu dem was als Kapitalismus funktioniert, deswegen rennen uns alle Leute weg. Es interessiert sich niemand dafür, ob wir da sind oder nicht, das ist eigentlich total Banane. Von 6 kam das Wort von radikaler Zerstörung, das fand ich auch gut, aber ich sehe trotzdem nicht, das danach anderes passieren kann, weil wir einfach keinen Gegenentwurf haben, weil wir keine ernsthaften Ideen haben.
Ich frage mich, wie man eine komplexe Welt so beschreiben soll, daß wir Leuten klar erkennbar machen, warum Radikale Demokratie überhaupt eine Möglichkeit darstellen kann, das zu organisieren. Ich sehe es gerade nicht und ich möchte gerne mal, daß mir das jemand zeigt oder auch eine andere Utopie, die ich vom jetzigen Stand aus real finde und nicht von 1994 oder 1992, da kann ich mir noch viel vorstellen, aber jetzt, da sehe ich das gerade einfach nicht.

Beitrag 8: Ich wollt was sagen zu dem positiven Bezug auf den bürgerlichen Humanismus. Sicher habt ihr einerseits recht, daß sehr viel an bürgerlich-humanistischen Wertvorstellungen weggebrochen ist und von rechten, rassistischen Wertvorstellungen ersetzt worden ist. Was wir aber nicht vergessen sollten, ist, daß heute in der Zeit von Rot-Grün, von sogenannter Neuer Mitte, der "bürgerliche Humanismus" ein sehr wirksames Herrschaftsinstrument ist, mit dem Kriege geführt werden. Ich denke gerade bei der Argumentation für den Kosovo-Krieg wurde dies deutlich. Wenn Deutschland wieder in den Krieg ziehen wird, wird wahrscheinlich wieder mit Menschenrechten argumentiert werden.

Beitrag 9: Ich habe ein Problem, und zwar weiß ich nicht so genau, wenn ich mir das alles so anhöre, also Demokratie - klar, bin ich dafür, aber ich weis nicht, wo das eigentlich hingehen soll. Eine Variante, ich glaube die nennt sich radikaler Reformismus führte schnurstracks in die Regierung, es hat zwar ein paar Jahre gedauert, aber da ist sie gelandet, sie hat einen extremen Erneuerungsschub für die damals recht verkrustete BRD gegeben. Diese Leute sind damals mit ganz ähnlichen Forderungen angetreten. Wie gesagt, ich kann das sehr gut verstehen, woher das kommt, wenn man sich die Rechtsentwicklung in Deutschland anguckt, dann ist das eine Entwicklung, die zu Lasten von demokratischen Grundrechten gegangen ist, und auf die sind wir ganz elementar angewiesen. Man muß sich nur einmal die Entwicklung beim Demonstrationsrecht angucken. Ich bin natürlich dafür, das zu verteidigen, aber wo soll es denn hingehen?

Beitrag 10 Juli: Ich möchte etwas zu Marc’s Referat sagen. Er fährt mit dem Begriff Demokrat, also er sei ein radikaler Demokrat, dann macht er die Notbremse und sagt: darunter soll man sich nicht Entscheidungsverfahren vorstellen, ein eigentümliches kommunistisches Anliegen. Es soll um so etwas gehen wie Gebrauchswertproduktion, daß die Leute die materiellen Mittel haben, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Das soll organisiert werden.
Wenn das der Zweck wäre, dann wäre es angebracht zu analysieren, was dem in dieser Gesellschaft entgegensteht. Dann würde ich behaupten: Da steht die kapitalistische Produktionsweise, die Garantie des Eigentums und die Garantie der Freiheit, über dieses Eigentum frei zu verfügen, dagegen. Und dagegen die Gleichheit vor dem Recht, weil die reproduziert nämlich immer wieder nur das Verhältnis, daß die Arbeiter mit ihrem Mittel, was sie haben, nämlich Arbeitskraft, auch fein Arbeiterklasse zu bleiben. Also drei Sachen, die man zu kritisieren hat, als ersten Schritt.
Wenn man auf eine linksradikale Politik aus ist, also den Kapitalismus abschaffen will, dann folgt daraus, daß der Staat diesen Kapitalismus garantiert. Daß es also nicht beim ökonomischen Kampf bleiben kann, sondern ein politischer Kampf daraus werden muß. Man muß den Staat beseitigen und das Eigentum beseitigen. Hinterher kann man sich tatsächlich anfangen zu überlegen - und das können wir von mir aus auch jetzt machen, wenn darüber Einigkeit besteht, daß das der erste Schritt der Organisation ist - was gemacht werden muß. Dann kann man sich überlegen, wie man die Gebrauchswertproduktion organisiert. Ob in kleinen Betrieben oder mit einem Gesamtplan oder sonstwas. Da bin ich immer dafür zu haben, aber so lange dieses gemeinsame Interesse und diese gemeinsame Zwecksetzung nicht da ist, habe ich überhaupt keine Lust, über so einen abstrakten Gedanken wie Selbstorganisierung zu reden. Was soll denn das? Man organisiert sich doch für einen bestimmten Zweck und nicht für Selbstbestimmung um der Selbstbestimmung Willen.
Und dann wollte ich noch was sagen: Es wird hier immer gesagt, daß die kapitalistische Welt so komplex sei oder vorhin wurde formuliert: ein ungeheuerlich komplexer Zusammenhang. Ja was macht ihr denn die ganze Zeit? Dann setzt euch doch mal ran und studiert Das Kapital und überlegt, was macht denn der bürgerliche Staat, was ist denn Imperialismus, was ist IWF, was hat die USA dafür getan, das es eine Weltordnung gibt? Da kann man sich doch theoretisch mit befassen. Und da würde ich sagen: Ja stimmt, das dauert seine Zeit, aber da kriegt man auch einen Gedanken drüber raus. Aber da soll man nicht von vornherein ohnmächtig davor stehen und sagen: oh, alles ist so komplex. Mit dem Gedanken kommt man nicht weiter. [vereinzeltes Klatschen]

Beitrag 11: O.K. Der Kürze halber lasse ich das mit dem Staat und Eigentum jetzt einfach weg. Das, was ihr letztendlich versucht, ist das, was die Faschos mit uns machen - wie vorhin bei Nazikultur - Diebstahl linker Codes erläutert worden ist - mit dem Unterschied, daß die Perspektive eine verhältnismäßig Reale ist, nämlich der radikale Arm der Grünen, oder was immer sich demnächst in dem Bereich als Opposition formiert, zu werden. Wenn ihr ehrlich seit, dann kriegt ihr von dem Begriff Demokratie den affirmativen Bezug auf diesen Staat hier einfach nicht weg. Soviel Macht habt ihr in diesem Diskurs nicht.

Beitrag BgR 12.1.: Ich habe das erste Mal ein freilebendes Exemplar des Linksliberalismus vor mir, nämlich den Marc. Ich habe mir schon überlegt, ob ich mal frage, ob ich ihn anfassen darf. Mein Problem ist folgendes: der Punk würde meines Erachtens zu ihm sagen: Ey Alter, du redest wie dein eigener Großvater. Ich prophezeie dir, daß du auf jeden Fall ein guter Staatsbürger werden wirst mit deiner Position. Du wirst auf jeden Fall kritisch sein in der Gesellschaft, das ist klar und wenn es ganz gut kommt, wirst du einfach ein perfekter Querdenker, erfüllst die Quote, die gefragt ist. Was ich dir vorwerfe, ist, das du dich wahrscheinlich positiv - wenn du sie erkennst - auf die Sachzwanglogik des Kapitalismus beziehst. Es geht dir darum, mitzumachen und nicht etwa zu gucken, wie man nicht mitmacht. Deshalb denke ich, daß dein Weg vorbestimmt ist und ich wünsche dir dafür alles Gute. [Beifall]

M. Mulia: Vielen Dank, auf jeden Fall...

Beitrag 12.2.: Ich war noch nicht ganz fertig. [wird vom Ringrichter aufgefordert eine Frage zu stellen und die persönlichen Dinge außerhalb zu klären] Also ich wollte euch beide fragen, was ihr davon haltet, daß eine radikale Linke erst mal über die Anti-Haltung reden muß, unter der Bedingung, daß man sich mit ganz bestimmten Dingen beschäftigt, die hier schon benannt worden sind. D.h. begreifen, wo muß man nein sagen, an welchem Punkt darf man nicht mehr ja sagen, wo muß man sich aus dieser Sachzwangmaschinerie raushalten, um nicht darin zermahlen zu werden und nicht zu diesem guten Staatsbürger zu werden. Das zum einen.
Zum anderen die Frage, wieweit kann man als radikaler Linker eigentlich das Spiel spielen, bürgerliche Werte zu verteidigen, um nicht selbst dahinter zu verschwinden. Zum Dritten möchte ich noch eine Kritik loswerden, daß diese Kategorie der Selbstbestimmung tatsächlich so ver- und mißbraucht wurde, daß sie nicht mehr als politische Kategorie taugt. Sie taugt maximal dafür, für junge Menschen - als moralische Kategorie - ihre eigene Motivation darzustellen, daß sie sich also selbstbestimmt in irgendeiner Form engagieren, aber als politische Kategorie taugt sie gar nichts, sondern sie ist letztendlich als Terminus linker Kitsch und deshalb sollten wir diesen Begriff einfach nicht weiter verwenden. Selbstbestimmung führt immer ins Nischendasein in dieser Gesellschaft. Anders kann man diesen Begriff nicht verwenden.

M. Mulia: Ich bin jetzt oft angesprochen worden. Also ich habe zwei zentrale Punkte. Einmal den mit den Begriffen. Ich habe vorhin schon drauf geantwortet. Die Problematik ist uns allen klar, nur muß ich auch, wenn du jetzt sagst: Selbstbestimmung ist alter linker Kitsch, sollte man heute nicht mehr sagen, ja was sagt man denn heute? Ich erkenne die Kritik, aber ich sehe nicht, was die Alternative ist, vielleicht müßtet ihr mir da auf die Sprünge helfen. Vielleicht gibt es einen guten Vorschlag, aber ich zweifle da ehrlich gestanden etwas dran. Mir scheint das darauf hinauszulaufen, daß man ständig neue Wörter schöpfen muß, und das kann aus meiner Sicht, nicht die Lösung sein. Der Zweck der Selbstorganisation - 10 hat es gesagt - man muß sich angucken, was die Gründe sind, die mit dem Kapitalismus verbunden sind, was das Übel ist und wenn man das alles erkannt hat, dann kann man ja zum späteren Zeitpunkt drüber nachdenken, wie man sich organisieren will. Das glaube ich, ist kein Weg, auf dem sich tatsächlich gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen lassen.
Gesellschaftliche Veränderungen lassen sich nur dann herbeiführen, wenn es tatsächlich gelingt, Menschen zu überzeugen. Und zwar nicht nur davon zu überzeugen, daß es Ausbeutung in unserer Gesellschaft gibt und Herrschaftsverhältnisse, sondern auch, sie davon zu überzeugen, daß es anders geht. Wenn das nicht klappt, hilft diese ganze Kritik - die völlig berechtigt ist, die aus meiner Sicht nicht der Streitpunkt ist - nichts. Eine gesellschaftliche Veränderung wird es nur dann geben, wenn es Zustimmung für eine andere gesellschaftliche Alternative gibt. Auch, wenn die nicht ganz konkret beschrieben werden kann. Es muß zumindest in der abstrakten Form klar sein, was man eigentlich will. Der Zweck der Selbstorganisation ist deshalb zweierlei, nämlich einmal, weil damit eine Utopie deutlich gemacht wird, wie wir, oder wie ich mir - vielleicht bin ich da wirklich hier der einzige - ein gesellschaftliches Zusammenleben vorstelle, nämlich - wenngleich ich das jetzt mit abgelutschten Begriffen sage - selbstbestimmt, wo die Menschen demokratisch entscheiden können. Und zweitens ist er deshalb so geeignet, weil man damit anfangen kann in kleinen Bereichen demokratisches Handeln zu praktizieren. Man kann Gruppen - das tun ja auch viele hier - selbstbestimmt organisieren und ich glaube, daß ist eben wichtig, diese Beispiele von Freiräumen auch zu haben.

BgR: Ich möchte das Ganze in Komplexen abhandeln. Also ein Komplex wäre auf jeden Fall: Was können wir überhaupt noch machen? Was für einen Gegenentwurf - da gehört auch dazu: Selbstbestimmung um der Selbstbestimmung willen, oder nicht doch lieber Kapital lesen? Und auch, ob Selbstbestimmung überhaupt noch ein politischer Terminus ist, wobei es mir nicht um das Wort geht, wegen mir können wir von autonomer Politik reden. Was können wir tun? Läuft das nicht alles auf radikalen Reformismus a la Grüne hinaus, und wohin soll es überhaupt gehen? Ich denke, das sind zwei Fragen, die sich berechtigterweise gegenüberstehen. Auf der einen Seite zu verlangen, es soll den großen Gegenentwurf geben, wie er bei Karl Marx im Kapital [Zuruf aus dem Publikum] - ich habe es nicht gelesen - wo er bei Karl Marx irgendwo stehen muß oder dann in der marxistischen Literatur dazu. Und gleichzeitig das Gefühl: Was können wir denn noch ausrichten? Das finde ich sehr bezeichnend, das ist auch eines der Probleme, warum dieses Thema hier aufgegriffen wird. Das ist genau dieses Gefühl, nicht authentisch zu sein, nichts ausrichten zu können. Wenn man heute sagt, man macht linke Politik, dann gucken einen alle anderen Jugendlichen, die ihr Skateboard fahren, an und denken "aha, naja, irgendwas Altes." Die Erfahrbarkeit von linker Politik ist weg. Und die Erfahrbarkeit, etwas bewegen zu können, ist auch weg. Es geht darum, zu sagen: Wir wollen wirklich etwas verändern. Und nicht zu sagen: Wir wollen hier im Kleinen was verändern, wie Marc das gerade gesagt hat, das wäre überhaupt nicht der Ansatz.
Wenn ich sage: Ich will politisch etwas verändern, dann will ich es politisch verändern. Dann will ich es nicht im Kleinen verändern, sondern dann will ich es richtig verändern. Das ist mein Ansatz. Und dafür versuche ich Politik zu machen und dafür brauche ich andere Leute, mit denen ich zusammen Politik machen kann, mit denen ich das organisieren kann. Dafür brauche ich diese Formen autonomer Politik, die Organisierung mit einschließen müssen. Das ist der einzige Weg, mit dem man überhaupt aus diesem Dilemma herauskommen kann.
Der andere Themenkomplex, zu dem ich gern was sagen würde, ist: wie weit bürgerliche Werte verteidigen? Sind die Begriffe nicht viel zu stark konotiert, daß man da sowieso nichts erreichen kann? Und das sehr zwingende Argument des Kosovo, da gebe ich dir 100 Prozent recht. Es ist hier auf diesem Kongreß mehrfach gesagt worden, alles was damit zusammenhängt, stellt uns vor die Frage: Ab welchem Punkt wir uns eigentlich zu nützlichen Idioten des Herrschenden - im Sinne der herrschenden Regierungspolitik - machen. Das ist eine zwingende Frage, vor der wir stehen. Die Frage, die Konotierung betrifft, hängt damit eng zusammen, und ich denke Kosovo macht am eindrücklichsten deutlich, daß das wirklich eine drängende Frage ist, daß es nicht einfach ist zu sagen: Ja wir beziehen uns auf diese bürgerlichen Werte.
Auf der anderen Seite merken wir immer wieder an bestimmten Punkten, an denen es um die politischen Freiheitsrechte geht - es geht mir gar nicht darum, zu sagen, daß ich dafür bin, alles umzuinterpretieren und dann in die Gesellschaft reinzuinterpretieren. Es geht mir nur darum, zu sagen: Es hat zumindest in der Vergangenheit manchmal funktioniert. Ich würde das nicht als politisches Konzept verkaufen wollen. Ich habe das an dem Punkt in die Diskussion geworfen, an dem es darum ging, daß wir manchmal gezwungen sind, uns positiv darauf zu beziehen - aus pragmatischen Gründen.
Wir stehen wirklich vor der Frage, und sie ist viel zu wenig diskutiert, wieweit wir diese bürgerlichen Werte verteidigen wollen. Was uns heute fehlt, was wir politisch überhaupt nicht diskutieren, ist, an welcher Stelle wir diese bürgerlichen Wert von links kritisieren. Wir sind viel zu sehr in die Defensive gedrängt, zu sagen: Diese bürgerlichen Werte, die müssen verteidigt werden gegen Nazis, gegen autoritäre politische Strukturen gegen einen Backslash, der sie trifft, gegen eine Sehnsucht nach dem Dritten Reich. Da sind wir immer gezwungen zu sagen: Na, aber hier, wenigstens die bürgerlichen Werte!
Eine Frage war noch, ob es für linksradikale Politik nicht wichtig wäre, eine prinzipielle Anti-Haltung einzunehmen und sich zu überlegen, an welchen Punkten nein gesagt werden muß. Das ist genau das, was ich meine: Es geht darum die erfahrbaren Widersprüche herauszusuchen und daran Politik zu organisieren. Das ist zu sagen, ich befinde mich in einer prinzipiellen Opposition, da will ich auch nicht zurückgehen. Da ist dann einfach "Nein" zu sagen! Es wäre schön, wenn man eine Analyse hätte, aus der sich allgemeingültig solche Widersprüche ergeben würden, wo man einfach sagen könnte: Das und das kommt raus, und das sind die Widersprüche, an denen man sich immer entlang hangeln muß. Ich glaube nicht, daß es so ist, daß die auf ewige Zeiten feststehen.
Ich glaube, daß ein wichtiger Bereich in der Gesellschaft der ist, wo uns ökonomische Macht gegenüber steht, daß man den sicher immer mit diskutieren kann, allerdings ist es gerade an dem Punkt so, daß sich offensichtlich die Mehrheit sehr gut damit arrangieren kann, arbeiten zu gehen und sich dafür zu reproduzieren. Uns jetzt zu fragen, ob das für uns nicht ein Widerspruch ist, der drängend ist, ich denke, das müßte sich zeigen. Es ist nicht mehr so wie in der Vergangenheit, daß die Arbeiterbewegung das zu ihrer Frage erklärt hat und aufgrund ihres politischen Verständnisses, dann auch links bis linksradikal damit umgegangen ist. Wenn man sich heute anguckt, wie sich Gewerkschaften mit der sozialen Frage auseinandersetzen, dann ist das keine linke Politik.

Beitrag 13 BgR: Ich habe Angst, daß ein großer Teil der Kritik auch damit zusammenhängt, daß das Konzept in Widersprüche einzugreifen, total vage ist. Du hast vorhin davon gesprochen, daß die Antifa bis jetzt mit dem Widerspruch Politik gemacht hat, gegen die Nazis zu sein - daß das gut war - weil sie sich damit auch die eigene Organisationsform erhalten hat. Ein Grund aber, warum wir hier sind, ist ja, daß dieser Widerspruch nicht dazu führt, unser Motivationsproblem zu lösen oder politische Erfolglosigkeit zu lösen. Wie ist es denn nun mit den Widersprüchen? Löst es wirklich alle Probleme, wenn man in Widersprüchen Politik macht? Und welche gibt es denn noch? Es wird immer gesagt, man müsse hier eingreifen in grundsätzliche Widersprüche und ich glaube, man sollte das plastischer machen. Ich finde das Konzept ansonsten gut, weil es uns die Möglichkeit gibt, Politik zu machen und uns zu organisieren, bevor der Staat und das Kapital abgeschafft sind. Das finde ich eigentlich einen Erfolg.
Dann muß ich noch etwas persönliches sagen: Ich glaube, wenn wir Marc eine gute Karriere wünschen wollten, dann hätten wir das vorher machen können, bevor wir ihn einladen und hätten ihn nicht erst aufs Podium setzen müssen, denn das, was er sagt, war uns vorher halbwegs klar und wenn er einmal hier sitzt, dann kann die Kritik auch inhaltlich sein. [Beifall]

Beitrag 14: Ich wollte in die Geschichte zurückgreifen und diese sogenannten bürgerlichen Idealvorstellungen oder Wertvorstellungen verteidigen und vom Bürgerlichen wegbringen. Wenn ihr euch Gewerkschaftsfahnen von revolutionären Gewerkschaften Anfang dieses Jahrhunderts anschaut, dann werdet ihr genau diese drei Worte auf ihnen finden. Zu unserer Identitätskrise hat beigetragen, daß wir die Definitionsmacht über diese Werte aufgegeben haben. Wir haben sie irgendwann verloren an die bürgerliche Gesellschaft. Und zwar waren diese Werte, wenn wir uns die französische Revolution anschauen, der Bruch mit dem faschistischen Naturrecht. Sie waren der Bruch mit dem Recht des Königs, gottgewollt der Herrscher zu sein.
Joseph Fischer hat nicht nur Auschwitz in den Kosovo projiziert, er hat auch die Internationalen Brigaden in den Kosovo interpretiert. Er hat im Spiegel einen direkten Vergleich gezogen zwischen der Bundeswehr und den Internationalen Brigaden. Das stellt mir die Nackenhaare auf, deswegen sollten wir diese Werte- und Idealvorstellungen gegen Angriffe aus der bürgerlichen Mitte verteidigen. Und deswegen sollte unsere Ideologiefindung wieder einsetzen und sich auch wieder darauf berufen.

Beitrag 10: Ich wollte etwas dazu sagen, was denn jetzt die Alternative ist oder ob man ratlos sein muß. Ich mache einen konkreten Gegenvorschlag und wir gucken mal, was dabei rauskommt. Wenn mich das Elend ärgert und ich davon auch noch selber betroffen bin, was Kapital in seiner Verwaltung als politische Gewalt anrichtet, wenn mich stört, was der Imperialismus anrichtet, also was das weltweite System des Kapitalismus so anstellt. Wenn es mich stört, daß es Nationalismus gibt und daß Leute, die diese Vorstellungen im Kopf haben, brutal gegen Leute vorgehen, die nicht ihr nationalistisches Konzept passen oder die nicht sie nicht in ihrem Laden haben wollen. Wenn man unterstellt, das Nationalismus was mit dem Zusammenhang von Staatsbürger und Staat zu tun hat - da müßte man die Nationalismusdiskussion führen - das kann man aber morgen früh machen. Wenn mich das alles stört, dann muß ich mich ransetzen und tatsächlich die Gesellschaft untersuchen.
Ich habe vorgeschlagen Karl Marx zu lesen. Der hat was sinnvolles dazu geschrieben, wenn da Leute aufschreien: Da steht ja nur Mist drin - ist mir egal. Versucht dann auf anderem Wege euch anzueignen, was die Prinzipien dieser Gesellschaft sind. Zusätzlich muß man sich erklären, wie der bürgerliche Staat funktioniert, welche Prinzipien dahinter stecken, das ist nämlich nicht einfach nur ein freier Meinungspulk, wo mal diese und mal diese Ideologie Hegemonie hat. Es ist kein Zufall, daß linksradikale Werte oder Inhalte in parlamentarischen Debatten keinen Erfolg haben werden. Es ist auch kein Zufall, das linke Parteien, die in parlamentarische Debatten einsteigen, zu Realpolitikern werden. Da ist nämlich Konstruktivität gefragt im Parlament und nicht linksradikale Kritik. Also, wenn ich das alles weiß, dann weiß ich auch, was ich abzuschaffen habe: nämlich das Eigentum und da muß ich eine zielgerichtete Produktionsweise einrichten. Dafür muß ich Leute haben und zwar massenhaft Leute, die dieser Wirtschaftsweise die Gefolgschaft kündigen, also muß ich die Leute davon überzeugen. Wie mach ich das? Indem ich ihre ganzen blödsinnigen Vorstellungen, nationalistische Vorstellungen, Leistungsethos usw. kritisiere und darauf zurückführe, zu gucken, wo denn der materielle Grund dahinter stecken kann.
Ich bin kein Leninist, der sagt: Materie und dann rein in die Birne oder sonst was. Ich würde z.B. behaupten, der Grund dafür, warum es Nationalismus immer geben wird im bürgerlichen Staat, ist, daß der Bürger als ökonomisches Subjekt auch auf den Staat verwiesen ist. Man muß immer an den Staat appellieren. Man braucht seine Rechtsgarantie. Der Sozialstaat ist notwendig usw. Wenn ich das weiß, dann ziehe ich los und mache eine Agitation auf und versuche andere Leute zu bilden, die ebenfalls Agitation machen. Das als konkreter Vorschlag. Ich weis nicht, wo da die Perspektivlosigkeit ist. Wenn all die, die immer meinen das sei unmöglich und deswegen Reformpolitik machen, dieses Projekt verfolgen würden, wären wir heute wahrscheinlich weiter.

Zwischenruf von12: Wo denn agitieren?

Weiter 10: Ja, meine Herren, da geht man an die Uni, da geht man an die Schule und von mir aus geht man auch morgens früh zum Betrieb. Ist mir doch wurscht.

Moderator [ihm das Wort abschneidend]: An der Uni sind wir schon, ein erster Schritt ist getan, vielleicht die nächste Meldung?

Beitrag 6: Ich würde vollkommen mitgehen mit der Meinung von 10. Bloß wenn man jetzt Karl Marx lesen soll, muß man erst mal Hegel lesen, weil sonst würde man ihn ja nicht verstehen. Der Eigentumsbegriff ist in Ordnung, nach Hegel ist er die erste Stufe der Freiheit, die muß man erst mal allgemein durchgesetzt haben, bevor es überhaupt zu einer generellen Veränderung kommen kann, die über diesen Eigentumsbegriff hinaus geht. Der Umgang mit Eigentum muß gelernt werden, dann kann man weiter sehen. Generell wurde hier gesagt: Direkte Demokratie oder Radikale Demokratie. Von Joseph Beuys gab es mal einen Gesellschaftsentwurf zur direkten Demokratie, der wurde mit einer erstaunlichen Agit-Prop-Maschine in die Bundesrepublik getragen. Was ist passiert? Nix! Da muß ich sagen, Formalismusvorwurf - ganz direkt. Ihr behauptet die Antifa würde nur noch aufgrund ihrer Organisierung bestehen, also rein formal, von außen übergestülpt. Es sind aber immer die Inhalte, die ihr Überleben sichern. Dann muß ich sagen, daß ihr gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen wollt, allein aus kleinen Reförmchen. Das eine Reförmchen kommt zur anderen. Das ist eine Quantität, und kommt eine Quantität zu einer anderen, kommt es irgendwann zu einem generellen absoluten Umschlag.
Man sollte die Idee einer generellen Revolution nicht aus den Augen verlieren. Das ist absolut wesentlich. Da sollte man auch vorbereitet sein, die kann von heute auf morgen kommen. [allgemeines Gelächter]

Zwischenruf: Hier kommt gerade der Vorschlag zu putschen.

Weiter 6: Gibt es jetzt einen Umschlag von Quantität in Qualität, oder nicht? Dann ist es eine von vielen Quantitäten in eine Qualität, die ist vollkommen neu, oder nicht? Das wäre dann revolutionär. Revolutionär heißt nicht, das eine revolutionäre Situation da sein muß, bevor die Massen und so..., muß nicht sein, weil Revolution heißt nur, daß es eine Reform ist, die grundsätzlich das System ändert. Das ist eigentlich das Gegenteil von Reformen.
Und zur Utopie, wenn man jede gegebene gesellschaftliche Situation interpretieren kann, als ob es eine Utopie wäre, dann ist der Begriff der Utopie vollkommen und vollständig erledigt. Wir brauchen dann nicht mehr über diesen Begriff zu reden. Man könnte jeden Zustand als Utopie interpretieren. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - ich finde ja "gut", "schön" und "wahr" besser.

Beitrag 17: Noch mal kurz zu eurer Abgrenzung zum revolutionären Antifaschismus. Das heißt dann ja immer: Das ist dieses sich zurückziehen auf die pragmatische Ebene und die Organisation als Selbstzweck, das habe ich auch bei euch rausgehört. Dieses Konzept Radikale Demokratie das, was ihr kritisiert, nur umgedreht. Nämlich letztendlich der Rückzug zum Reformismus, da führt kein Weg dran vorbei, wenn man es konsequent durchzieht. Ich finde, daß mit so einem Kongreß wie dem hier, eigentlich ein Schritt in die richtige Richtung gemacht wird, nämlich den Versuch zu wagen, die Antifa zusammenzubringen, die es eigentlich nur deswegen gibt, weil es scheinbar eines der ganz wenigen Felder ist, wo die Leute sich aus einer unmittelbaren Betroffenheit heraus politisieren. Es ist auch wichtig, daß die Leute irgendwann mal anfangen etwas zu lesen, aber ihnen mit dem Vorwurf den Diskurs zu verweigern, daß sie es eh nicht wollen, sondern sich nur mit den Nazis hauen, kann nicht der richtige Weg sein und er wird hiermit hoffentlich verlassen.

Beitrag 18: Ich wollte auf die Wertediskussion eingehen. Hier sind ja alle Meinungen vertreten. Ich denke und das ist leicht gesagt, daß das differenziert zu sehen ist. Es wird oft der Werteverfall beklagt, das ist so ein reaktionäres Hinterherjammern. Diese Werte sollten wir nicht verteidigen, die damit gemeint sind, sondern wir sollten die tatsächlich linken, revolutionären Werte verteidigen, die auch teilweise im Bürgertum vorhanden waren. Es war bei der französischen Revolution vor allem die Gleichheit - auf dem Podium wurde da über Brüderlichkeit und Freiheit mehr gesprochen, das sind die anderen Aspekte, die sie zu einer bürgerliche Revolution machten - aber Gleichheit war ein zentrales linkes Anliegen und darauf kann man sich beziehen und auf die französische Revolution kann man sich ohnehin gut beziehen, weil es eine Revolution war.

BgR: Die umfangreichste Frage ist sicher die Erste gewesen, wo ich gebeten wurde, dieses Agieren in den Widersprüchen zu konkretisieren, also was damit gemeint ist. Natürlich ist Anti-Nazipolitik zumindest im Osten ein Feld gewesen, wo man sich ganz klar im Widerspruch befunden hat, wenn man eigene Projekte machen wollte, weil die einfach von den Nazis angegriffen und plattgemacht worden. Daraus ist viel an antifaschistischem Widerstand und letztendlich an linksradikaler Politik entstanden. Nun ist es so, daß es in den letzten Jahren immer weniger Felder der Politik gab, in denen linksradikale Politik gemacht wurde, deswegen ist es schwierig, da mit anderen aktuellen Beispielen zu hantieren, aber gerade die Auseinandersetzung um eigene Zentren - früher auch die Auseinandersetzung um besetzte Häuser - sind solche Punkte, an denen eine Organisierung hätte stattfinden können. Es sind auf jeden Fall Punkte, an denen ein Widerspruch zu staatlicher Politik stattgefunden hat und an denen die eigene Politik selbst organisiert werden mußte. Denn das waren keine Zentren, keine Häuser, die von Institutionen oder Parteien betrieben wurden und dort ist dieser Widerspruch erfahrbar gewesen, z.B. zu einer kommunalen Stadtverwaltung. Die dann einfach gesagt hat, sie sieht keinen Bedarf mehr dafür und letztendlich Herrschaft ausüben konnte. Ich hoffe das war jetzt ein bißchen konkreter.
Ich denke es läßt sich auf jedem Gebiet, auf dem linksradikale Politik gemacht wurde, so ein Widerspruch zeigen. Zumindest in den großen Bewegungen, die wir kennen, also selbst in der Anti-AKW-Politik, würde ich sagen, hat es so etwas gegeben, Dieses Moment, wo Leute gesagt haben, hier wird einfach darüber bestimmt, was gemacht wird, obwohl wir das nicht wollen und wir haben überhaupt keine Möglichkeit darauf Einfluß zu nehmen, Da war Widerspruch erfahrbar. Das kann man natürlich gerade an dem Beispiel kritisieren und sagen: Naja das ist diese Angstpolitik, die da gemacht wurde. Das einfach nur Angst vor dem Super-GAU herrschte, die Leute allein deshalb dagegen waren. Aber es gab auch diese linksradikalen Elemente in der Anti-AKW-Politik, die sich eher an Widersprüchen festgemacht haben, als an so einer allgemeinen Atomangst oder einer Technikfeindlichkeit zum Schutz der deutschen Natur, was in dieser ganzen Bewegung auch immer eine Rolle gespielt hat. Soviel vielleicht zur Konkretisierung der Widersprüche.
Zur Agitation kann ich sagen: Viel Erfolg. Laßt mich bitte nicht das machen müssen. Wir waren hier unterwegs zum Zehnten Jahrestag der friedlichen Revolution, da haben wir zum letzten Mal im großen Stil Agitation betrieben und das Erlebnis ist noch sehr frisch. Es ist nicht unbedingt meine Lieblingspolitikform. Qualität und Quantität würde ich gern weglassen, da kann vielleicht irgendwann mal jemand ein Seminar dazu machen oder besuchen. Eine revolutionäre Situation wird aufgrund unserer Politik jedenfalls in den nächsten 14 Tagen nicht eintreten, da bin ich mir sicher. Zur Utopie habe ich vorhin schon etwas gesagt. Und der junge Mann mit dem revolutionären Antifaschismus ist schon weg.

M. Mulia: Das war auch jetzt keine große Überraschung - mir geht das jedenfalls oft so, wenn ich als letzter vielleicht Linksliberaler zu Diskussionen gehe, daß dann das Thema aufkommt: Revolution und Reformismus. Das läuft dann so, daß die einen den Vorwurf machen, wer für Reformen eintritt, der will keine Revolution mehr, und die anderen sagen, wer die Revolution will, der will gar nichts ändern, als ob das Eintreten für konkrete Verbesserungen, meinetwegen das Eintreten für eine alternative Ausländergesetzgebung oder für eine demokratischere Schule, als ob das im Widerspruch stehen würde zu der Forderung zu einer herrschaftsfreien Gesellschaft oder nach einer Abschaffung des Kapitalismus. Das ist nicht der Fall.

Zwischenruf 10: Wenn du sagst für eine alternative Asylpolitik, dann würde ich sagen: Genau das spricht gegen eine herrschaftsfreie Gesellschaft.

M. Mulia: Du sagst, wenn ich dich richtig verstanden habe: das Eintreten zum Beispiel...

Zwischenruf 10: ...für die doppelte Staatsbürgerschaft...

M. Mulia: Also das war ein Punkt zu meiner politischen Arbeit gegen die Abschaffung des Asylrechts, da würdest du jetzt sagen, wer so etwas macht, hat im Grunde schon aufgegeben - mir leuchtet das nicht ein. Ich finde das Eintreten für den Erhalt bestimmter Grundrechte - so kritisch man denen gegenüberstehen mag - zum Teil geboten und sehe das nicht im Widerspruch. Das ist dann jedem persönlich überlassen, nicht mehr mit mir zusammenzuarbeiten. Persönlich habe ich keine Probleme so etwas zusammenzubringen. Ich glaube, daß gerade das Eintreten für konkrete Verbesserungen und für Demokratie und das Deutlichmachen, daß ein gleichberechtigtes Miteinanderumgehen möglich ist, daß das wichtig ist, um den zur Zeit herrschenden Diskurs zu durchbrechen. Ich sehe für mich da im Moment keine Alternative, auch wenn ich vielleicht der letzte bin mit solchen Ansichten.

Beitrag 19: Ich will kurz was zur Form sagen. Vielleicht sollte man nicht nur Marx und Hegel lesen, sondern auch ein Buch über Redeverhalten und der Dominanz von Männern...

Zwischenruf 10: Das war keine Kritik, mach die inhaltlich bitte.

Weiter 19: Ich habe gerade gesagt, daß ich eine Formkritik machen will und ich denke, daß eine Formkritik auch angebracht ist bei einer Diskussionsrunde und ich würde mich auch freuen, wenn - ich bin leider morgen beim Abschlußplenum nicht da - das erwähnt wird, denn das ist nicht die erste Diskussionsrunde, wo diese Kritik angebracht wird. [Beifall]

Moderator: Ich denke, das war auf jeden Fall ein gutes Schlußwort, das sich alle noch mal in ihre Köpfe einhämmern sollten.

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