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22.06.2003
Ligna-Radioballett: Einladung zur Übung in nichtbestimmungsgemäßem Verweilen
um 17.30-21.00 Uhr / am Leipziger Hauptbahnhof und auf 97,6 MHz (Radio Blau)
"Bahnhöfe sind wie die Häfen ein Ort, der keine Stätte ist. Hier verweilen die Menschen nicht, hier treffen sie zusammen, um wieder auseinanderzugehen. Alles ist möglich, das Alte liegt hinter ihnen, das Neue ist unbestimmt. Kaum ein Genuß ist darum dem Daueraufenthalt in Bahnhöfen vergleichbar. Inmitten der Wüste des Alltags sind sie die Oasen der Improvisation."
Siegfried Kracauer, 1930
Kontrolle. Kameraüberwachung, Wachpersonal, Verbote bestimmter Handlungen im öffentlichen Raum sind in den Neunziger Jahren so üblich geworden, dass die Mehrheit diese Kontrolle nicht mehr als unangenehm empfindet. Im Gegenteil: Es hat sich in der Kontrollgesellschaft das Gefühl durchgesetzt, dass Videokameras der eigenen Sicherheit dienen. Es wird begrüßt, dass von der Ordnungsmacht unerwünschte Personen der Daueraufenthalt in öffentlichen Räumen wie zum Beispiel den Bahnhöfen verboten wird. Gesellschaftliches Leben löst sich in verschiedene, zusammenhangslose, kontrollierte Situationen auf, denen nur eines gemeinsam ist: sie sind gegen jedes überraschende Moment, gegen jede unerwartete, vielleicht sogar unheimliche Begegnung vorausschauend immunisiert. Abweichendes Verhalten, schon "nichtbestimmungsgemäßes Verweilen" gilt in den ausschließlich dem Konsum gewidmeten Räumen als störend.
Bahnhöfe. Erprobt wurde dieses Modell gesellschaftlicher Kontrolle am Hamburger Hauptbahnhof 1991 durch den Umbau der Wandelhalle in ein zweigeschossiges Einkaufszentrum, mit den Promenaden im Leipziger Hauptbahnhof (1997) entwickelte es sich zum "Prototyp" (Bahnchef Hartmut Mehdorn). Die Bedeutung dieser Umgestaltung der Bahnhöfe in Shopping Malls (Mallifizierung), ihrer "Revitalisierung" besteht darin, dass ihre kontrollierte Organisation als öffentliche Räume zum Vorbild gesellschaftlichen Lebens wird. Ihn ihnen werden nicht nur die Instrumente der Kontrolle getestet; hier wird auch das Kontrolliert-Werden eingeübt.
Hausordnung. Waren Bahnhöfe ungefähr ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch öffentliche Räume, in denen sich Menschen mit unterschiedlichen Zielen ständig mischten, unterliegen sie seit der Teilprivatisierung des ehemaligen Staatsunternehmens nun dem (privaten) Hausrecht der Deutschen Bahn AG und ihrer Tochterunternehmen, bzw. dem Center Management des jeweiligen Einkaufszentrums: Die Hausordnungen setzen streng definierte Verhaltensweisen durch eine nahezu totale Überwachung durch. Der verweilende Daueraufenthalt in Bahnhöfen, von dem Siegfried Kracauer noch schwärmt, weil sich darin die unvorhersehbaren Improvisationen öffentlicher Räume genießen lassen, gilt in der Hausordnung der Promenaden Hauptbahnhof Leipzig nun als "nichtbestimmungsgemäßer Aufenthalt", dem beim "Verweilen trotz Aufforderung" Hausverbot oder sogar strafrechtliche Folgen drohen. Aber schon kurzes "Sitzen oder Liegen auf dem Boden" kann dieselben Folgen haben, ebenso wie die "Einnahme von alkoholischen Getränken außerhalb der gastronomischen Betriebe". Betrunkene stören die Ordnung erst, wenn ihr Konsum jenseits vorgegebener Bahnen stattfindet, so wie der Konsum sogenannter "harter Drogen".
Aber die Hausordnung unterbindet auch den Protest gegen dieses Kontrollregime an dem Ort der Kontrolle. Er wird als "Personenansammlungen, die den Fußgängerverkehr behindern", ausgeschlossen. Das "Verteilen von Handzetteln", "Befragungen von Personen", "Darbietungen jeder Art" und "Belästigungen aller Art" sind ebenfalls untersagt und schränken die Möglichkeiten politischer Öffentlichkeit am Bahnhof drastisch ein.
Shopping Mall. Zugleich locken Einkaufszentren wie die Hamburger Wandelhalle oder die Leipziger Promenaden mehr denn je Menschen an die Bahnhöfe, die nicht reisen, sondern verweilen wollen. Sie wollen promenieren und unterhalten werden, hoffen vielleicht auf Handzettel und Befragungen, um der allgegenwärtigen Langeweile des bestimmten Aufenthalts durch unbestimmte, neue Situationen zu entkommen. Kurz: Sie sind süchtig nach Darbietungen jeder Art. Die verschärfte, allgegenwärtige Kontrolle reagiert auf diese Situation: Es darf nur geschehen, was kontrollierbar ist. Mit Hilfe der Kameraüberwachung, der kein Winkel verborgen bleibt, setzen die angeheuerten Wachdienste schärfer als je zuvor genaue Ausschluss-Kriterien um. Wer legale Waren konsumiert, darf bleiben. Wer das Verweilen nicht in ein ernsthaftes Kaufinteresse kleiden kann, wird des Platzes verwiesen.
Gesten. Das Kontrollregime an den Bahnhöfen herrscht durch unterschiedliche Mittel. Die architektonischen Maßnahmen haben einen einheitlichen, lichtdurchfluteten Raum geschaffen, der keine dunklen Winkel mehr kennt. Kostspielige Materialien, regelmäßig gereinigte Scheiben und Böden erzeugen eine saubere Bühne, auf der bestimmte Verhaltensweisen nurmehr solange ausgeübt werden können, bis sie von den Kameras erfasst werden und die Ordnungskräfte einschreiten. Der Raum ist ästhetisch genormt. Gesten und Bewegungen der Besucher werden in erlaubte und verbotene unterteilt. Jemandem die Hand zu geben, auf einer Bank kurz zu sitzen, auf einen Fahrplan zu zeigen usw. ist weiterhin erlaubt. Die Hand aufzuhalten, auf dem Boden zu sitzen, jemandem "verschwörerische" Zeichen zu geben, am falschen Ort zu rauchen usw. ist verboten und wird unverzüglich geahndet.
Ausschlüsse. Indem bestimmte unerwünschte Verhaltensweisen und Menschen ausgeschlossen werden, wird der Raum gesäubert von Anzeichen sozialer Ungleichheit. Die Praxis des Ausschlusses korrespondiert mit der Gettoisierung sozial Benachteiligter in den Randzonen der Städte bei gleichzeitiger Reservierung der Innenstädte für kaufkräftige Klientel. Diese Segregation entpolitisiert den öffentlichen Raum: Sie lässt die Anzeichen der Brutalität kapitalistischer Vergesellschaftung verschwinden, die immer auch eine Drohung gegen den Einzelnen sind: wo Abstieg möglich ist, kann er jeden treffen.
Intervention? Dass die normierte entpolitisierte Öffentlichkeit Prototyp für die Innenstädte und Leitbild gesellschaftlicher Ordnung ist, macht eine künstlerische Intervention in diesen Raum notwendig. Wie ist in diese Situation zu intervenieren? Was kann den gesäuberten, nach bürgerlichen Kriterien geordneten öffentlichen Raum wieder unkontrollierbar und unheimlich machen? Wie lassen sich die aus dem Bahnhof verdrängten Gesten in diesen wieder zurückbringen? Wie lässt sich dieser Raum unter den gegebenen Bedingungen (re)politisieren? Wie lässt sich der Paranoia eines permanent aktiven, panoptisch organisierten Überwachungssystems begegnen?
Radioballett. Die Radiogruppe LIGNA vom Freien Sender Kombinat (FSK) in Hamburg antwortete auf diese Fragen mit einer neuen Praxis der Intervention gegen die private Kontrollmacht am Hamburger Hauptbahnhof, die sie nun auch am Leipziger Bahnhof erproben möchte. Das Ligna-Radioballett ist keine Demonstration, sondern eine Zerstreuung von möglichst vielen Leuten über den Bahnhof, die über Transistorradios und Kopfhörer ein Radioprogramm hören, das ihnen Vorschläge für erlaubte und verbotene Gesten macht. Es ist keine Darbietung, denn die alltäglichen Gesten sind nicht theatralisch, sondern konkrete Verhaltensweisen. Es ist keine Belästigung, weil der Reiseverkehr ungehindert weitergehen kann. Es verteilt keine Handzettel, sondern macht den geordneten Raum durch die massenhaft zerstreute Wiederkehr verdrängter Gesten unheimlich. Die Paranoia der Überwachung wird gespiegelt: Überall wo eine Kamera den Raum durchdringt, erscheinen gleichzeitig dieselben Gesten, gegen die der Sicherheitsdienst nur als vereinzelte vorgehen kann. Der Zentralität der Überwachung wird durch die Zerstreuung begegnet. Der kontrollierte Raum wird so verunsichert: Die PassantInnen und die Wachleute sehen, dass viele Leute zugleich dieselben Handlungen durchführen, wissen aber nicht, wodurch und wie diese gesteuert werden. Das Radioballett ist eine ästhetische Strategie, die die Normierung des Raumes auflöst und zugleich eine reale Veränderung des Raumes bedeutet. Darin liegt der politische Charakter des Radioballetts. Die Gesten werden nicht symbolisch ausgeführt, sie repräsentieren nichts, sie sind nicht theatralisch. Aber weil die verdrängten und vergessenen Gesten massenhaft wie Gespenster den kontrollierten Raum heimsuchen, ist ihr Protest gegen diese Verdrängung unmittelbar sichtbar. Das Radioballett ist keine Aktion, die einfach die von der kapitalistischen Vergesellschaftung produzierte Ungleichheit an den Bahnhöfen sichtbar machen, also moralisieren will. Es tritt schon gar nicht für ein "bunteres" Leben im Bahnhof ein. Indem es das durch Kontrolle Verdrängte real zurückbringt, indem es die Zonierungen der sozialen Räume dabei gespenstisch überschreitet, hofft es auf nicht weniger als die Abschaffung kapitalistischer Verhältnisse, die diese Ausschlüsse notwendig produzieren.
Was ist ein Radioballett? Ein Radioballett ist keine Versammlung, sondern eine Zerstreuung. Es tanzt, anders als ein Fernsehballett, nicht als Massenornament. Es hat keine einheitliche Bühne. Es ist nicht gereiht, es bildet keine Figur, sondern existiert in der simultanen, aber zerstreuten Geste. Das Radioballett behindert Passanten nicht, sondern irritiert durch seine Gleichzeitigkeit. Zum Mitmachen bei diesem Ballett sind keine tänzerischen Fähigkeiten vonnöten. Es braucht allein ein aufmerksames Ohr und ein tragbares Radio mit Kopfhörern. Über den Raum des Hauptbahnhofs verteilt, werden die TeilnehmerInnen aus dem Radio Anweisungen für die Ausführung verschiedener Gesten erhalten. Ziel ist dabei nicht der individuelle künstlerische Ausdruck, sondern serielle und wiederholte Bewegungen in der Grauzone zwischen erlaubten, zwielichtigen und verbotenen Gesten. Von der Geste die Hand zu reichen zur Geste die Hand aufzuhalten, ist nur eine kleine Drehung des Unterarms vonnöten. Unter den aufmerksamen Blicken der Überwachungskameras ist sie der Unterschied ums Ganze. Die Wendung von der Begrüßung zum Betteln ist eine der Bewegungen, zu der das Radioballett seine TänzerInnen über den Äther auffordert. Das Radioballett ist, wie jedes andere Radioprogramm, selbstverständlich überall in Leipzig zu empfangen, der Ort, für den es aber bestimmt ist, ist der Hauptbahnhof.
Verbot? In Hamburg hat die Deutsche Bahn AG versucht, das Radioballett untersagen zu lassen. Das Radioballett war nicht angekündigt worden, weil es sich den Kategorien der Hausordnung entzog. Die Bahn hat vor dem Hamburger Landes- und Oberlandesgericht auf Unterlassung geklagt. Die Gerichte verwiesen die Bahn mit Hinweis auf das Grundrecht der Meinungsäußerung in ihre Schranken. Sie erkannten, dass es sich bei dem Radioballett nicht, wie die Bahn glaubhaft machen wollte, um eine Versammlung handelte, sondern um eine Zerstreuung. Es ist nicht klar, wie sich diese einstweiligen Urteile auf den Versuch, das Radioballett am Leipziger Hauptbahnhof durchzuführen, auswirken werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Bahn alle Mittel nutzen wird, um die Durchführung des Radioballetts zu verhindern. Wir lassen uns davon nicht beeindrucken.
Programm. Das Radioballett wird durch eine Erkundung des Leipziger Hauptbahnhofs vorbereitet. Gruppen mit Handys und Radios werden die architektonische Organisation, die Ausschluss- und Kontrollmechanismen des Bahnhofs vorstellen. Das anschließende Radioballett wird eineinhalb Stunden dauern. Es ist ein mehrstimmiger Text. Zum einen werden Gesten vorgeschlagen, zum anderen werden Thesen zum öffentlichen Raum und Reflexionen über das Ballett vorgestellt. Eine halbstündige Nachbereitung schließt das Programm ab. Zur Teilnahme am Ballett ist nicht mehr vonnöten als ein tragbares Transistorradio mit Kopfhörern. Durch die Kopfhörer wird das Radioballett besser hörbar und die Unheimlichkeit der Situation gesteigert. Es wird 200 Radiogeräte mit Kopfhörern zum Ausleihen in der Nähe des Bahnhofs geben, besser ist aber, sich für wenig Geld ein kleines Radio anzuschaffen. Des weiteren sind zwei Utensilien mitzubringen, die für die Choreographie des Balletts nötig sind: Ein rotes Tuch (oder eine rote Serviette) und eine Plastiktüte.
Das Radioballett wird durch die Einladung von der Schaubühne Lindenfels möglich und findet im Rahmen der Veranstaltungswochen zum öffentlichen Raum mit dem Titel "Entsichert" statt. Es ist durch den Fond Soziokultur e.V. ermöglicht.
Gegen Privatisierung, Zonierung und Kapitalisierung öffentlicher Räume!
Es gibt kein Hausrecht für den öffentlichen Raum!
Die Kontrolle durch unkontrollierbare Situationen verunsichern!
Für die Zerstreuungsfreiheit!
Das Radioballett findet am Sonntag, den 22. Juni 2003 um 17.3021.00 Uhr im Hauptbahnhof Leipzig und auf Radio Blau, 97,6 MHz statt.
Für Hinweise, Kritik und Anmerkungen sind wir dankbar: radioballett@gmx.net
LIGNA Freies Sender Kombinat Hamburg, April 2003
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