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03.03.2002
Du und Dein Garten
Zum Verhältnis von erster und zweiter Natur im Marxschen Subjekt- und Gesellschaftsbegriff
„In Wirklichkeit gibt es keine Struktur außerhalb dessen, was Sprache ist und sei es auch eine esoterische oder sogar eine nicht verbale Sprache. Es gibt nur insofern Struktur des Unbewußten, als das Unbewußte redet und Sprache ist. Es gibt nur insofern Struktur als Körper, als die Körper für sprechende gehalten werden in einer Sprache, welche die der Symptome ist. Die Dinge selbst haben nur insofern Struktur, als sie einen schweigenden Diskurs abhalten, welcher die Sprache der Zeichen ist.“
(Gilles Deleuze)
„(...) Bleibt man dabei stehen, einen gegebenen Inhalt bloß unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung zu betrachten, so ist dies (...) ein durchaus begriffloses Verhalten; man hat es dann bloß mit einer trockenen Tatsache zu tun und die Forde-rung der Vermittlung (...) bleibt (...) unbefriedigt.“
(Georg Wilhelm Friedrich Hegel)
„Drei leitende Ideen bestimmen die Dialektik: die der Macht des Negativen als theoretisches Prinzip, das in Gegensatz und Widerspruch seinen Ausdruck findet; die des Werts von Leiden und Trübsinn, die Aufwertung der 'tristen Leidenschaften' als praktisches Prinzip, das sich in der Zerrissenheit, in der Entzweiung manifestiert; die der Positivität als theoretisches und praktisches Produkt der Negation selbst.“
(Gilles Deleuze)
Daß Dinge als natürlich und andere dagegen als unnatürlich angesehen werden, hat allen Grund in der begrifflichen Fassung von Sachen. Daß dieses Fassen von Sachen nicht die natürliche Sache selbst ist, erschließt sich nicht unmittelbar. Vielmehr ist jede Formbestimmung von Natürlichkeit eine notwendig gesellschaftliche, die sich als ein vermitteltes Verhältnis von Sache und Begriff oder Form und Inhalt darstellt.
Nur wenn man den materialistisch-dialektischen Zugang zum Gegenstand der Erkenntnis zur Tugend der Denkbewegung macht, erschließt sich der Gegenstand als ein gesellschaftlich entstandener, dem nicht etwa die Begriffsbildung als Ergebnis eines sachlichen Diskursprozesses zu Grunde liegt, wie nun schon seit Jahrzehnten insbesondere französische und US-amerikanische Strukturalisten und Poststrukturalisten behaupten, sondern die gesellschaftliche Objektivität, die den Menschen zugleich zum geschichtlichen Subjekt und Produkt der Verhältnisse macht.
Im materialistischen Sinne von Marx machen die Verhältnisse nicht die Menschheitsgeschichte, zwingen aber die Menschen dazu, ihre eigene Geschichte zu machen. Demzufolge machen sie zwar ihre eigene Geschichte, nicht aber aus freien Stücken. Der ideelle Wille ist somit nicht aus der Vernunft entstanden, sondern vielmehr die Vernunft aus den Verhältnissen heraus, die auch den Willen zur Veränderung hervorbringen.
Die Tätigkeit des Menschen, seine „sinnlich-menschliche“ (Marx), ist nicht Naturbeherrschung, sondern Stoffwechsel mit Natur: Naturstoffe werden im Prozess der Tätigkeit des Menschen geformt. Gesellschaftliche Organisation wie auch das Denken jeglicher Form von menschlichem Zusammenleben sind Ausdruck davon.
Den individuellen Menschen als allgemeines und besonderes Gattungswesen von anderen Tieren zu unterscheiden, setzt voraus, seine Naturverhaftetheit, seine Dazugehörigkeit zur Natur zu begreifen: Der Mensch ist und bleibt Teil der Natur. Daß er auf sich selbst durch Vergeistigung reflektieren kann, macht ihn zum besonderen Lebewesen, das sich als Subjekt zu denken vermag.
Die Marxsche Kritik und der darin enthaltene dialektische Begriff von Natur ist Kraft der Hegelschen Negation nicht positiv bestimmt: was die erste von der zweiten Natur unterscheidet, bestimmt sich in der durchweg negativen Kritik an gesellschaftlichen Bedingungen, die den Menschen vermittelt zur zweiten Natur geworden sind und einen antiemanzipatorischen Zwangscharakter tragen.
Marxsche Kritik richtet sich keineswegs gegen Unnatürlichkeit an sich. Sie will Natürlichkeit erst gar nicht auf den Begriff bringen, weil sie objektiv im ursprünglichen Sinne nicht denkbar ist: Historischer Materialismus, wie er von Marx begründet wurde, ist das genaue Gegenteil von Urprungssuche und der Frage nach Eigentlichkeit von Dingen und menschlichem Dasein. Gegen die menschenfeindliche Suche nach Ursprung und Eigentlichkeit, die im 20. Jahrhundert von dem deutschen Ideologen Martin Heidegger auf die philosphische Spitze getrieben wurde und bis heute linke Gesellschaftskritik vernebelt und umnachtet, setzte Marx schon im 19. Jahrhundert den materialistisch geerdeten Hegelschen Begriff von dialektischer Wirklichkeit: der wirkliche Mensch ist Produkt der Verhältnisse und seiner eigenen Geschichte. Er ist objektiv Subjekt der wirklichen Verhältnisse wie auch wirkliches Subjekt der objektiven Verhältnisse.
In seiner Kritik der politischen Ökonomie nimmt Marx erstmals eine Bestimmung vom Verhältnis von Waren- und Denkform vor und kritisiert dadurch den gesellschaftlich vermittelten Schein von als natürlich begriffenen Verhältnissen als notwendigen Fetisch eines kapitalistischen Produktionsverhältnisses, das sich gegen die Menschen richtet, in dem es sich im Prozess der Kapitalakkumulation durch Mehrwertschöpfung die Menschen zum Mittel macht, statt daß die Menschen sich die Produktionsweise zum Zweck ihrer selbst aneignen. Das kapitalistische Grundprinzip des Selbstzwecks der Produktionsweise - zu produzieren, um zu produzieren - stellt sich gegen die Menschen. Sie verleibt sich die Menschen mittels gewaltsamen Zwangs ein, in dem es sie zur allgemein herrschenden Daseinsform als Arbeitskraftbehälter nötigt und zur Kapitalbildung verwertet.
Ohne einen Begriff von Natur ist Gesellschaftskritik undenkbar. Daß dieser Begriff keine positivistische Bestimmung von dem sein kann, was Natur an sich wäre, gehört zum Grundsatz eines Marxschen dialektischen Materialismus.
Die materialistisch-dialektische Denkbewegung zielt nicht auf eine Sache selbst, sondern auf das Wesen von gesellschaftlichen Verhältnissen, die von Menschen gemacht werden, und somit Ausdruck ihrer sachlichen Beziehungen untereinander wie auch ihrer notwendigen Beziehungen zu den Sachen sind.
Eine Kritik des bürgerlichen Subjekts und der objektiven Notwendigkeit seiner gesellschaftlichen Existenzform sollte demzufolge in den Mittelpunkt einer Gesellschaftskritik zurückkehren, von der sich péu a péu in den letzten Jahrzehnten verabschiedet wurde. Natur zu denken als dialektisch vermitteltes Verhältnis von menschlicher geistiger wie körperlicher Tätigkeit zu Natur und nicht von Natur zu Natur selbst, wie Friedrich Engels das dialektische Denken falsch über sich hinaustrieb, ist Bedingung für emanzipatorische Kritik, die wirklich aufs Ganze gehen will.
Wer zum Beispiel Geschlecht, Nation oder Arbeit als gesellschaftliche Konstruktionen kritisieren möchte, muß zum einen begreifen, daß jegliche menschliche Gesellschaftsform eine konstruierte ist, und zum anderen, daß ein natürliches Zusammenleben von Menschen an sich wie für sich grundsätzlich unmöglich ist sowie eine Be-stimmung überhaupt nur in der materialistischen Erfassung gesellschaftlicher Beziehung und deren dialektischer Vermittlung zu anderem erfolgen kann. Gesellschaftliche Begriffe als reale Abstraktionen sind nicht mit sich selbst identisch, sondern bringen einen Teil der Beziehung von erster und zweiter Natur durch geistige Durchdringung auf den Begriff: Erkenntnis ist so immer die hergestellte und automatisch zugerichtete Identität von dem, was Erkenntnis erfaßt und nicht erfaßt, das heißt, identisch und nicht identisch machen kann. Darin besteht das ganze dialektische Wesen der Wahrheit: sie ist in ihrer Beziehung von Sache (Objekt) und Begriff (Subjekt) wahr und falsch zugleich.
Emanzipatorische Gesellschaftskritik steht deshalb vor der erkenntnistheoretischen Herausforderung, die gesellschaftlichen Erscheinungen nicht etwa getrennt zu betrachten, sondern im Gegenteil umfassend in ihrer Vermitteltheit und wechselseitigen Durchdringung zusammen zu denken, ohne sie jemals vollends miteinander identisch fassen zu können: „Gerade eine materialistische Theorie wird daran festhalten, daß erst mit der gesellschaftlichen Produktionstätigkeit, die den gedanklichen wie realen Übergang von der Kausalität zur Wechselwirkung und umgekehrt ebenso setzt wie den von dieser zur Teleologie, konkrete Dialektik ins Spiel kommt“ (Alfred Schmidt).
Arbeitskreis Kritischer Materialismus
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