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Gegen Arbeitswahn und Kapitalismus - kein Finger krumm für diese Gesellschaft! Wahlsonntag 22. September 2002 | 14.00 Uhr | Leipzig, Moritzbastei
Mit der Zielsetzung eine antikapitalistische Praxis zu entwickeln, muss von den verbliebenen Linken und den Resten der Post-Antifa ein Transformationsprozess organisiert werden. Transformation heißt dabei vor allem Ausrichtung auf das Übel Kapitalismus. Theoretische Fundierung und die zur Anlassnahme gesellschaftlicher Ereignisse als Katalysator der Verbreitung unserer Position sind dafür grundlegend. Am 22. September 2002, dem Tag der Bundestagswahl, werden wir gegen die Zumutung einer kapitalistischen Gesellschaftspraxis protestieren. Zum selben Zeitpunkt Arbeit und Kapitalismus zu thematisieren, ist uns dazu Ansatz eigener Reflexion. Gesellschaft analysierend und zunächst Arbeit als Ausgangspunkt einer kritischen Betrachtung wählend, eröffnet sich ein pragmatischer Einstieg in eine komplexe Thematik. Demgegenüber wird plakativ mit dem Arbeitsfetisch gebrochen, der die Linke jahrzehntelang beherrschte, Wesen und Erscheinung des Kapitalismus aber gerade verschleierte. Denn Arbeit als Kategorie ist nur denkbar innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft, als auch Kapitalismus nur über den Prozess der Vergesellschaftung durch Arbeit funktioniert.
Kapitalismus als Prinzip
Das Wesen einer jeden kapitalistischen Gesellschaft ist es, der Logik des Kapitals zu folgen. Ausgehend davon, dass vermittelt über Lohnarbeit Waren mit einem bestimmten Wert entstehen können, geht es kapitalistischer Logik darum, mit vorhandenem Kapital mehr Kapital zu erzeugen. Dieses Prinzip treibt die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft an und strukturiert sie. Real ist damit die übergroße Mehrzahl der Menschen gezwungen arbeiten zu gehen und am Kreislauf von Warenproduktion und Warenkonsumtion teilzunehmen. Ebenso zwangsläufig basiert Kapitalismus damit auf der Ausnutzung von Differenzen, auf Rationalisierung und auf der Systematik von Ein- und Ausschluss. Er läuft unabwendbar immer hinaus auf Hierarchisierung und Konkurrenzverhalten, auf Ausbeutung und Zurichtung. Dafür ist er als menschenfeindlich zu benennen und muss abgeschafft werden. Von kapitalistischer Gesellschaftsformation zu sprechen, meint und beinhaltet die Einheit und gleichzeitig den Widerspruch von Erscheinung und Wesen. Das Wesen des Kapitalismus bringt in seinem Vollzug konkrete gesellschaftliche Erscheinungen und Abläufe notwendig hervor. Wegen der in der Kapitallogik angelegten Dynamik wandeln sich diese und sind als konkrete Ausformungen Resultat kapitalistischer Logik. Sie sind als Teil des Ganzen ebenfalls rückhaltlos zu kritisieren und abzulehnen. Historisch einbetoniert in das heutige gesellschaftliche Denken ist die kapitalistische Logik maßgeblich bestimmend für das Handeln der zeitgenössischen Individuen. Gleichsam affirmiert und konstituiert auch die tatsächliche gesellschaftliche Praxis das auf Wertproduktion ausgerichtete Denken. Aus dieser Totalität lässt sich nur mit dem Verweis auf ihre geschichtliche Entstehung und damit der Möglichkeit ihrer Abschaffung entkommen.
Arbeitsgesellschaft und Staat
Der Mensch instrumentalisiert sich in der Struktur kapitalistischer Logik selbst, macht sich zum Mittel des Zwecks der Profitproduktion. Um Reproduktion und Überleben sicherstellen zu können bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine Arbeitskraft auf dem »freien Markt« zu verkaufen. Gleichzeitig tritt er mit allen anderen Menschen in Konkurrenz und stellt in der Produktion die Profitabilität sicher. Ein solches, durch den Tausch »Arbeitskraft gegen Geld« ermöglichtes, Gesellschaftsverhältnis degradiert den Menschen selbst zur Ware, zu etwas Dinglichem, welches vergleich- und beliebig austauschbar ist mit anderen verdinglichten Waren. So wird durch den Tausch von Arbeitskraft gegen Geld ein Zirkulationskreislauf am Leben erhalten, in dem die Produktion zur Profitmehrung als Selbstzweck im Vordergrund, menschliche Bedürfnisse dagegen hintan stehen. Als ideeller Gesamtkapitalist ist der Staat Erfüllungsgehilfe der auf Warenproduktion ausgerichteten Gesellschaft. Durch in Institutionen gegossene Gewalt regelt und sichert er, als Garant von Eigentum und Verträgen, den Fortlauf der Verwertungsprozesse. Es obliegt ihm, zur funktionierenden Verwertung der BürgerInnen Infrastrukturen zu stellen, Normen und Sanktionierungsmaßnahmen durchzusetzen. Er stellt die Vermittlung her zwischen Kapitaleignern und den zur Selbstverwertung genötigten und vermittelt ebenso zwischen Kapitaleignern und Arbeitnehmern untereinander. Langfristig schützt er Reproduktionsbedingungen gegen die Interessen kurzfristiger Einzelkapitalien und legt fest was verwertet werden darf und was nicht. Denn ohne arbeitsfähige Menschen funktionieren weder Kapital noch Staat. Die kapitalistische Gesellschaftsformation erzeugt das Einvernehmen ihrer BürgerInnen miteinander zu konkurrieren. Gleichzeitig wird der Staat als allgemeiner Schiedsrichter zu diesem Zweck anerkannt und eine Hierarchisierung der Gesellschaft in Kauf genommen. Im Vollzug kapitalistischer Praxis zwangsläufig entstehendes soziales Elend und Leid gehen folglich maßgeblich von ihrer strukturellen Verfasstheit, nicht aber einfach von bestimmten Eliten oder anderen Gruppen aus.
Geschlechterhierarchische Arbeitsteilung
Häusliche, anstrengende oder verschiedene andere Tätigkeiten werden ebenso wie Lohnarbeit häufig unter den Begriff der Arbeit gefasst. Von einem kapitalismuskritischen Standpunkt aus gilt es dagegen den spezifischen Unterschied zwischen für Lohn entrichteter Arbeit und Tätigkeit an sich hervorzuheben, um den Charakter der kapitalistischen Gesellschaft zu erfassen. Lohnarbeit findet in der Sphäre der Produktion statt. Notwendige reproduktive Tätigkeiten zur Wiederherstellung der Arbeitskraft in der Reproduktionssphäre, die der Produktionssphäre gegenübersteht. In der Entstehung des Kapitalismus entwickelte sich über diese Auftrennung eine geschlechterhierarchische Gesellschaft. Während in der Form der kleinbürgerlichen Familie bis heute den Frauen die Verantwortung für den Haushalt und die Kindererziehung zufällt, »schaffte« der (Ehe-)Mann in der Produktion und wurde vor allem über seinen Status als Ernährer und Haushaltsvorstand zum Patriarchen über Frau und Familie. Frauen fielen indessen gefühlsbetonte und unproduktive Tätigkeiten zu, die in der Sphäre der Arbeit nicht nützlich waren. Durch das Delegieren dieser Tätigkeiten an die Frau konstituierte sich die Reproduktionssphäre, gleichzeitig als Rückseite dieser die Produktionssphäre. Mit dieser Entwicklung ging parallel ein gesellschaftlicher Prozess einher, in dem universelle männliche und weibliche Charakterbilder entstanden. Die typische Frau wurde sich vorgestellt als natur- und triebhaft, geprägt von einer emotional bedingten Irrationalität; Männer hingegen identifiziert mit Arbeit und Vernunftbegabung. Da Frauen heute zu großen Teilen ebenfalls in der Produktionssphäre arbeiten, wo ihre angeblichen Charaktereigenschaften mittlerweile besonders gefragt sind, sind sie einer doppelten Vergesellschaftung ausgesetzt. Denn nach wie vor stehen sie traditionell in der Verantwortung, die Tätigkeiten in der Reproduktionssphäre zu übernehmen.
Der Arbeitswahn und die Folgen
Die wachsende Arbeitslosigkeit setzt besonders zu Wahlzeiten die demokratisch Verwaltenden unter Druck und Zugzwang. Alle Parteien und Fraktionen sind dazu genötigt Konzepte auf den Tisch zu legen, wollen sie ´s sich nicht mit der Wählerschaft verderben und den Verlust von Wählerstimmen riskieren. Will die Wirtschaft aber niemanden einstellen, nur weil gerade gewählt wird, drücken den Staat andererseits durch hohe Arbeitslosigkeit entstehende Kosten. Gleichzeitig müssen die Arbeitslosen auf eine Arbeitsexistenz festgelegt bleiben. Da wegen fortschreitender Technisierung und Globalisierung aber von den vier Millionen Arbeitslosen in Deutschland letztlich kaum einer gebraucht wird, droht nun eher ein neuerlicher Kampf gegen die Entstehung einer Arbeitslosenkultur denn einer für Vollbeschäftigung. Stellt dieser Sachverhalt eigentlich einen spannungsreichen Widerspruch dar, wird er geradezu gewissenhaft ausgehalten oder schlicht ignoriert. Den umworbenen WählerInnen, arbeitslos oder nicht, wird die Realität wenn überhaupt, dann auch nur in homöopathischen Dosen dargereicht. Denn in Zeiten von Rezession und massivem Rationalisierungszwang sind all diejenigen, die gerade nicht am Verwertungsprozess teilhaben dürfen zunächst einmal überflüssig - was für soziale Verwerfungen sorgt. Die entstandene soziale Unzufriedenheit ist gegenwärtig vielmehr nutzbares Potential denn Gefahr für das Bestehen der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft. Sie gerät zum Treibstoff eines neueren Modernisierungsschubs und Kapitalismus erneuert und reformiert sich wieder einmal von innen heraus selbst. Zu solchem Zweck der Reform bedarf es Vorschlägen, Ideen, Visionen, die im diesjährigen Wahlkampf geschickt inszeniert vor allem von der Kanzler-Kreation »Hartz-Kommission« stammen. Ist diese Kommission zunächst einmal »unabhängig und überparteilich«, stellt sie im medialen Diskurs das Instrument zum Ausloten dessen was gesellschaftlich durchsetzbar ist dar. Ohne gleichzeitig verbindlich und damit eventuell rufschädigend zu sein, heizt sie den Wahlkampf noch einmal an und setzt vor allem die schon siegesgewisse CDU unter Zugzwang. Unabhängig davon wer die demokratische Hatz auf die Macht für sich entscheiden kann, mit geistesverwandten Umsetzungen der Reformideen darf allerdings zu rechnen sein. Egal ob nun unter dem Label »Hartz-Kommission« oder »Offensive 2002«. »Ich-AG«, »familienfreundliche Quick-Vermittlung«, Mini-Jobs etc. sind die hartz´schen Euphemismen, die das zukünftige Bild der Arbeitsgesellschaft prägen sollen und von der fortschreitenden Demontage des Sozialstaats künden. Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld werden zwar voraussichtlich nicht zeitlich weiter begrenzt und gekürzt werden. Die Ausweitung von Niedriglohnjobs vor allem im Dienstleistungsbereich, mit schlechter oder gar keiner sozialer Absicherung, wird aber parteiübergreifend unterstützt und scheint schon beschlossene Sache zu sein. Ebenfalls angedacht ist Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen höherem Druck auszusetzen und das behördliche System von Kontrolle und Sanktionierung zu erweitern. Während Urlaubsverbot, Weckanrufe, morgendliches Erscheinen vor dem Amte oder 3-monatige Meldepflicht jetzt schon die Arbeitswilligkeit unter Beweis stellen sollen, droht den »Arbeitsunwilligen« bald die Streichung jeglicher finanzieller Unterstützung. »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen«, ist der bekannte Kanon, der hier das Bild vom am Volk schmarotzenden Asozialen wieder bedient. Neben dieser Maßnahme ist es zur Bereinigung der Statistiken ebenfalls Ziel, Arbeitslose zukünftig schnellstmöglich zu vermitteln. Das bedeutet nicht nur, dass die sogenannte »Zumutbarkeitsgrenze« sinken wird, sondern auch, dass ein gesetzlicher Zwang entsteht den Jobs hinterher reisen zu müssen, sollten am Wohnort gerade keine vorhanden sein. In eine ähnliche Kerbe schlägt das Konzept der an Arbeitsämter angegliederten »personal service Agenturen«, wo Arbeitslose zum klassischen Tagelöhner avancieren. Auf Zeit vermittelt müssen Arbeitslose ständig abrufbereit, mit steuerlicher Begünstigung durch den Staat, für Unternehmen als billige Arbeitskräfte herhalten. Arbeitslose sollen so faktisch in Lohnarbeitsverhältnisse getrieben werden. Welchen Inhalt diese Beschäftigungsverhältnisse haben ist dabei völlig gleich, dass ökonomische Prinzipien über den Haufen geworfen werden ebenso. Stellen diese Maßnahmen einerseits eine Disziplinierung dar sind sie andererseits Ausdruck für das verzweifelte Festkrallen am bürgerlichen Idealklischee des ehrenhaften Arbeiters. Dass gleichzeitig in wohl kalkuliert geäußerter Realitätsferne immer noch vom Ziel der Vollbeschäftigung gesprochen wird, kann in diesem Zusammenhang nur als Mittel gesellschaftlicher Befriedung verstanden werden. Wo die Angst um den Arbeitsplatz oder die Angst vor drohendem sozialem Ausschluss an der Tagesordnung ist, schallt der Ruf nach dem starken Staat besonders ausgeprägt. Wenn auch das Vertrauen in die Politiker und Parteien danieder liegen mag, das Vertrauen ins System und der Wille daran festzuhalten bleibt ungebrochen. Der Nachdruck, mit dem nach Veränderungen gerufen wird, als auch die Akzeptanz der neuen Konzepte unter Arbeitslosen wie nicht-Arbeitslosen zeugt von einem grundlegenden gesellschaftlichen Klimawechsel. Die unhinterfragte Selbstzurichtung unter der Marke »Ich-AG«, die zunehmende Prekarisierung, als auch die aktuellen Zugeständnisse der Arbeitnehmervertretungen dienen dafür als Gradmesser. Einher geht damit ein Umbau in der Funktionsweise des Staats. Sozial regulierende Mechanismen werden aufgegeben zugunsten repressiver Methodik. Sich zunehmend zurückziehend aus Feldern bisheriger Verantwortung wird die Eigenverantwortung der Einzelnen mehr in den Vordergrund gestellt.
Alternativmodelle zur Arbeitslosengesellschaft
Sollten die anstehenden Änderungen in der Arbeitsmarkpolitik nicht fruchten, werden neue Konzepte an der Gesellschaft ausprobiert werden. In Anbetracht der Schwierigkeit, in absehbarer Zeit wieder eine Vollbeschäftigung der Gesellschaft herbeizuführen, kommen dabei so genannte Alternativkonzepte und -lösungen zu besonderer Geltung. Diese, besonders von »linker« Seite erdachten, Konzeptionen setzen vor allem auf Begriffe wie Tätigkeits- oder Bürgergesellschaft. Sie gehen einher mit der Vorstellung von zurückgedrängtem Einfluss des Staats und Gesellschaft regelnden Moralvorschriften. In communities, Kietzen oder regionalen Zusammenschlüssen sollen sich die BürgerInnen selbst verwalten und den Arbeitszwang durch gegenseitige Überwachung sicherstellen. Inne wohnt diesen Zukunftsentwürfen aber das gleiche Bild von Arbeit, wie es heute in der Gesellschaft vorherrscht. Arbeit wird mit menschlicher Tätigkeit gleichgesetzt, statt eine Trennung von Lohnarbeit und nicht bezahlter Tätigkeit zu vollziehen. So kommt man zwangsläufig nicht über kapitaladäquate Gesellschaftsvorstellungen hinaus. Für die einen müsse vorhandene Arbeit einfach nur »gerecht aufgeteilt« werden, die anderen wünschen sich für die Arbeitslosen lieber virtuelle, simulierte Arbeit. Letztendliches Ziel der Überlegungen ist es immer sozialen Frieden unter geänderten Vorzeichen herzustellen, nicht aber Ursachen anzugehen und die gesellschaftliche Praxis kritisch unter die Lupe zu nehmen. Dementsprechend strotzen solcherlei Konzeptionen immer vor Gewissheit die Fetischisierung der Arbeit nicht überwinden zu wollen. Fordern sie doch beständig eine Arbeitsidentität ein, wenn es sein muss per Disziplinierungs- und Strafmaßnahmen. Was dann als Tätigkeitsgesellschaft vorgestellt wird sprüht geradezu vor ur-protestantischem Arbeitsethos, dem Willen zur Arbeit um ihrer selbst Willen.
»Arbeit ist das halbe Leben« heißt der kapitalistische Konsens und so will auch niemand mit dem herrschenden Arbeitswahn brechen. Zwar gibt es doch einige Menschen, die Arbeit aufgrund des frühen Aufstehens oder zu geringer Bezahlung wegen »scheiße« finden mögen. An der Logik des Kapitals, an den Kategorien Eigentum und Tausch soll aber meistens nicht gerüttelt werden. Schließlich wird Arbeit nicht als notwendiger Bestandteil einer kapitalistischen Praxis erkannt - soll sie doch fest in der menschlichen Natur verankert sein. Hier setzt unsere linksradikale Kritik an und ist Anti-Position zum ideologischen Einheitsbrei der zur Wahl aufgetischt wird. Denn das während der letzten 200 Jahre festgeschriebene Geschichtsbild vom mit der Arbeit unweigerlich verquickten Menschen gilt es entschieden zu bekämpfen und das historisch entstandene Übel Kapitalismus zu überwinden.
Gegen Arbeitswahn und Kapitalismus! Für die linksradikale Organisierung!
BgR Leipzig, August 2002. www.nadir.org/bgr
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