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14. November 1990 ... Was war da gleich?

Die Besetzung der Mainzer Straße


    "Unsere Häuser könnt ihr räumen - unsere Herzen nie" stand 1992 an einem der ehemals besetzten Häuser der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain. Diese wurde nach über sechsmonatiger Besetzung in einem der "härtesten Einsätze der Nachkriegsgeschichte" (Berliner Kurier 28.8.02) am 14.11.1990 geräumt.
    In den ersten beiden Teilen des Textes gehe ich auf die Besetzung und Räumung ein, in den letzten beiden streife ich kurz die Situation in Sachen Hausbesetzung seit dem in Berlin und Leipzig.


Die Besetzung der Mainzer Straße

Alles begann mit der Idee von vier schwulen (West-)Autonomen, ein "Tuntenhaus" nach Westberliner Vorbild auch im Osten zu gründen. Mit dem Mauerfall bot sich für die Autonomen in Westberlin die Gelegenheit, ihre Politik im Osten fortzusetzen. Nachdem die Gruppe auf 12 Mann (oder wohl besser gesagt "Frau") angestiegen war, traf mensch sich mit zwei weiteren, nichthomosexuellen, linken Gruppen in der Elisabeth-Kirche (Berlin-Mitte). Dort wurde die Besetzung der halb leer stehenden Mainzer Straße (im folgenden M.S. genannt) beschlossen. Dies geschah dann auch am 28.4. und wurde auf der "Revolutionären 1. Mai Demo" bekannt gemacht, so dass in der Folgezeit die Bewohner(innen)zahl rasch anstieg. Anfangs kam der größte Teil der Besetzer(innen) aus Westberlin, doch kamen im Laufe der Zeit immer mehr "Quoten-Ossis" hinzu.

Insgesamt wurden elf Häuser besetzt, von denen acht auf einer Seite nebeneinander standen und miteinander verbunden waren. Das "Tuntenhaus" in Nr. 4 wurde zu einer Art Maskottchen der M.S. und hatte auch eine eigene Kneipe. Als weitere Institutionen existierten neben weiteren Kneipen noch das Infocafé, die Food-Coop, der "Laden", das Antiquariat und natürlich Versammlungsräume. Desweiteren gab es Einkaufsgemeinschaften, Aufgabenteilung bei der Verteidigungsprävention der Straße (worauf ich später noch zurück kommen werde) und natürlich die in jedem ordentlich geführten, linksradikalen Haushalt obligatorischen und unentbehrlichen Plena. Von Unterstützer(innen), Nachbar(inne)n und Freund(inn)en bekamen die Hausbesetzer(innen) Lebensmittel, Möbel und anderes.

Wie reagierten nun die (DDR-)Behörden auf die Besetzung? Sie duldeten sie, standen aber mit den Besetzer(inne)n in ständiger Verhandlung um geregelte Nutzungsverträge. Diese Verhandlungen wurden am 8.10. abgebrochen - fünf Tage, nachdem die DDR der BRD einverleibt wurde und Friedrichshain nun auch der Polizeihoheit der (West-)Berliner SPD/AL[1]-Koalition unterstand. Weiterhin vresuchten die Behörden (v.a. die Polizei) zwischen Nazis und Besetzer(inne)n zu vermitteln.

Die Naziübergriffe nahmen im Laufe der Zeit immer mehr zu. Die Faschos überfielen bei Tag und bei Nacht Leute und versuchten einige male mit bis zu 200 Nasen die M.S. zu stürmen. Häufig fuhren sie durch die Straße und beschossen die Häuser meist mit Pyro-, einige male auch mit scharfer Munition.

Gegen all das, und gegen eine befürchtete Erstürmung durch die Bullen, gab es Verteidigungsstrukturen. Einige Hausbesetzer(innen) versuchten auch (erfolgreich!) mit den jüngeren Nazis ins Gespräch zu kommen, doch war das kein Gemeinkonsens aller M.S.-Squatter(innen). Meist wurde sich mit "militanten" Mitteln verteidigt. Hakenkrallen wurden vor die Autos der Nasen auf die Straße geworfen, Mollis standen in den Häusern bereit, Katapulte/Zwillen mit Stahlgeschossen waren einsatzfähig und die Dächer wurden abgesichert. Außerdem wurde der Polizeifunk abgehört. Auch die Straße an sich machte einen ziemlich "militanten" Eindruck: einschlägige Sprüche standen an den Häuserwänden, schwarzrote Fahnen hingen an den Fenstern. Doch das alles sollte sich bald ändern.

Die Räumung

Nachdem die DDR am 3.10.1990 entgültig Freiwild des BRD-Kapitalismus wurde, erreichte die Gewalt zwischen Nazis und Linken in Berlin einen Höhepunkt (u.a. ein getöteter 18jähriger Nazi auf dem Alexanderplatz). Die Stadtverwaltung stilisierte die M.S. zum Ausgangspunkt der Gewalt - zum Teil vielleicht gar nicht mal zu unrecht. Eine bevorstehenden Räumung zeichnete sich immer mehr ab.

Der 12.11. begann für die M.S.-Leute mit der Nachricht, dass u. a. die Pfarrsraße 110 und 112 geräumt werden. Sollten sie dorthin gelockt werden, um die M.S. schutzlos der Staatsmacht auszuliefern? Sie begannen statt dessen mit einer Verbarrikadierung ihrer Straße, u. a. mit Baucontainern und Autos. Darauf folgte eine Spontandemo durch die Frankfurter Allee, wobei es auch einige Randale gab (Scheiben gingen zu Bruch, Barris wurden gebaut).

Etwa ab 12.00Uhr versuchten schwer gerüstete Polizeieinheiten mit Wasserwerfern und Räumpanzern die M.S. zu stürmen, mussten aber aufgrund der übermäßig hohen Konzentration an Stahlgeschossen und Steinen in der Luft zurück weichen.

Während sie sich sammelten, machten sich BRD-weit hunderte Unterstützer(innen) der Besetzer(innen) auf den Weg nach Berlin. Die Barrikaden wurden ausgebaut. Mit einem in der M.S. stehenden Bagger wurden an beiden Enden der Straße Gräben gezogen. Zwischendurch gab es immer mal wieder Stress mit "braven Bürgern" und Nazis.

Dann versuchten die Bullen abermals über die Scharnweberstr., die Boxhagener Str. und die Frankfurter Allee mit auf Baggern aufgeschweißten Rammen, Panzern und Wasserwerfern, in die Straße zu gelangen. Der Bezirksbürgermeister versuchte zu vermitteln, wurde aber von den Wasserwerfern gezwungen, in die M.S. zu flüchten.

In der Boxhagener Str. versuchten einige Autonome, eine stehen gelassene Straßenbahen als vorgelagerte Barrikade an die Schienen zu schweißen. Der Fahrer und die Fahrgäste waren vorher geflohen. Wegen der heftigen Gegenwehr der Bullen (Wasserwerfer, Tränengas) misslang der Versuch. Etwa 3Uhr nachts zog sich dann die Polizei erfolglos zurück.

Am 13.11. waren die bürgerlichen Medien geteilter Meinung: die einen pro, die anderen contra Hausbesetzer(innen). Die AL, die nicht über die Räumung informiert wurde, versucht zwischen den Bullen und den Hausbesetzer(inne)n zu vermitteln. Während Polizei aus der gesamten BRD auf dem Weg nach Berlin war, bestritt der Berliner Polizeipräsident immer wieder eine bevorstehende Räumung der M.S. Inzwischen gaben die M.S.-Bewohner(innen) Interviews und bauten ihre Verteidigungsstrukturen weiter aus. Wichtige Dinge wurden aus den Häusern geschafft, weil mensch schon mit einem Sieg der Bullen rechnete.

Am 14.11. gab es um 5.00Uhr früh im nicht besetzten, aber bewohnten Haus Nr. 22 Feueralarm. Einige Squatter(innen) versuchten vergebens, das Feuer im Keller zu löschen. Die Feuerwehr wurde gezwungen, ihre Schläuche über die Barrikaden zu legen.

Nach einer kurzen Atempause tauchte etwa 6.30Uhr der erste Hubschrauber über der Straße auf. SEK-Bullen wohl durch die U-Bahn oder angrenzende Häuser, sich in die Straße zu schleichen. Die Schlacht begann. Auf ihrem Weg, die Barris zu zerstören, prügelten die SEK'ler alles nieder, was sich bewegte. Knochenbrüche und Blutergüsse waren die Folgen. Ein Hausbesetzer wurde durch einen Schuss an der Wade verletzt.

Es folgte der Sturm von etwa 3000 Bullen in die Straße. Aus den Fenstern wurde alles mögliche auf sie hinunter geworfen. Die Luft war angefüllt mit Tränengas und Steinen. An vielen Stellen brannte Benzin. Die Polizei versuchte auch, über die Dächer in die Häuser zu gelangen. Auf einem Dach kam es deshalb zu einem "Nahkampf" zwischen ihnen und Besetzer(inne)n.

Gegen 9.00Uhr hatten die Bullen die Straße erobert. Wer konnte, floh - meist über Hinterhöfe und den Friedhof. Viele kamen im besetzten Haus Kreutzigerstr. 23 unter. Dann begann die Prügelorgie gegen die wehrlosen, nicht geflohenen: Knochenbrüche; Blutende, die stundenlang in ihrem Blut liegen gelassen wurden; schwere innere Verletzungen, deren Folgen die Betroffenen ein Leben lang begleiten werden. Das ganze erinnerte schon sehr stark an die Erstürmung der Diaz-Schule in Genua am 21.7. 2001 - die Videoaufnahmen und Fotos sind bekannt. Etwa 300 bis 400 Leute wurden in Gewahrsam genommen, einige später wegen Landfriedensbruchs verurteilt. Laut Polizeiangaben wurden fünf Bullen und 15 (?!) Autonome verletzt, zwei durch Schusswunden.

Die Zeit danach

Am 16.11. kündigte die AL die Koalition mit der SPD. Beide Parteien traten bei den Abgeordnetenhauswahlen am 2.12. getrennt an - und verloren haushoch gegen die CDU!

Nicht nur die physischen, auch die psychischen Schäden hatten für die betroffenen Ex-M.S.-Leute schwere Folgen. Der Schock, die Traumata waren wohl auch ein Grund dafür, weshalb es danach kein Nachbereitungstreffen, keine "Jahrestaggedenken" oder ähnliches gab.

Einzelne Hausbesetzungen gab es zwar dann immer noch, aber v. a. Räumungen. Im Horrorjahr 1996 wurden die meisten besetzten Häuser in Berlin geräumt. Das letzte der rund 120 1989/90 in Ostberlin besetzten Häuser wurde 1998 geräumt. Die letzte spektakuläre Räumung einer 90er-Jahre-Neubesetzung war am 4.9.2002 die Rigaer Str. 94. Dies war wohl auch eine der am besten dokumentierten Räumungen überhaupt, dank der zahlreichen Foto-, Video- und Textdokumente im Internet.

Laut squat.net gibt es in Berlin seither 13 Häuser, die ursprünglich illegal besetzt waren und heute (manchmal nur zu Teil) legalisiert sind. Daneben gibt es noch sieben Wagenplätze. Berlin soll nach dem Willen der Stadtoberen eine "saubere" Bundeshauptstadt sein. Dementsprechend sieht auch die M.S. heute aus: luxussaniert mit tristen, blassen Wänden, hinter denen soziale Kälte herrscht, und mit Autos zu geparkt.

Und in Leipzig?

Die Situation in Leipzig möchte ich auch nur kurz tangieren. Vielleicht findet sich zu einem späteren Zeitpunkt Gelegenheit, näher darauf einzugehen - sofern es die INCIPITO da noch geben sollte.

Neben vereinzelten in den 80er Jahren, begannen im Winter 1989/90 groß angelegte Besetzungen. V. a. in Connewitz wurden ganze Straßenzüge besetzt. Die Stockartstraße (mit o, nicht mit ö) kam im Frühjahr 1990 an die Reihe (14 Häuser). Im Laufe der Zeit erhielten die meisten Häuser Nutzungsverträge. Gleichzeitig verkündete die Stadt 1992 die "Leipziger Linie": illegale Neubesetzungen werden innerhalb von 24 Stunden geräumt. So kam es 1992-1995 zum Häuserkrieg, bei dem viel autonomes Terrain verloren ging. Danach kehrte allmählich Ruhe ein.

Ein weltweit(?) einmaliges Ereignis waren am 24.4.1998 die "Weltfestspiele der HaubesetzerInnen", wobei für höchstens wenige Tage noch einmal dutzende Häuser besetzt wurden. Dabei gab es auch einen toten, allerdings nicht durch Polizeiübergriffe, obwohl damals in Leipzig der Ausnahmezustand herrschte.

Ein eher belustigendes Kapitel war die FDP-"Hausbesetzung" der Wolfgang-Heinze-Str. 28 während des in Leipzig stattfindenden FDP-Bundesparteitages. Diese wurde noch am selben Tag, dem 27.6.1998, geräumt. Die Jungliberalen wollten damit auf den hohen Leerstand und die Mietungerechtigkeit hinweisen - kein weiterer Kommentar dazu.

Neubesetzungen gab es in den der Zeit seit 1992 natürlich auch. Ebenso, wie das Projekt b12 im Jahre '96[2], mussten die G16-Leute drei Jahre bei der Stadt betteln, bevor sie 1998 die ihnen zugewiesenen Immobilien "besetzen" durften. Es gibt natürlich noch andere wichtige Projekte in Leipzig: das Conne Island (seit 1992), das Zoro (seit 199_), das Giro (seit 1999), Wagenplatz (seit ?) usw.

Und die Besetzer(innen), was ist mit denen? Solange sie nicht in der Stockartstraße dahin vegetieren, leben sie ruhig und brav zurück gezogen in ihren Schneckenhäusern und bezahlen brav und anständig, wie es sich für eine(n) gute(n) Deutsche(n) gehört, ihre Miete. Der eine oder die andere wohnt tatsächlich noch in einem der altautonomen Projekte (z.B. im Zoro), ordnet sich aber sonst den herrschenden Leistungs- und Erfolgsdruck seines/ihres Studiums bzw. seiner/ihrer Lohnarbeit unter. Aber das ist wiederum eine ganz andere Geschichte ...


[1] AL=Alternative Liste, so nannten sich damals die Berliner Grünen
[2] Die ursprüngliche b12 wurde 1993 geräumt.


Links:
www.berlinstreet.de (Erlebnisbericht)
www.etuxx.com (Tuntenhaus)
www.egocity.net
http://squat.net/


Literaturtipp:
H. Hauswald/M. Pietzker/H. Zille, Berlin - Mainzer Straße (Berlin 1992).

== Muhammed==
[Nummer:04/2002]
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Datei wurde angelegt am: 12.07.2004