Selbstorganisation - Radikale Demokratie

Bündnis gegen Rechts Leipzig
  1. Die Lösung des Pauperismus als Preis für gesellschaftliche Stabilität
  2. Die Aktualität der sozialen Frage als moralische Frage
  3. Revolutionärer Antifaschismus - was ist das?
  4. Welche gesellschaftlichen Widersprüche sind grundlegend?: Bestimmung statt Mitbestimmung
  5. Deutschland: die drohende Revolution des Mobs
  6. Revolution als Wendepunkt nicht als Ziel
  7. Notwendigkeit der Organisierung
  8. Das Problematische der Selbstorganisation
  9. Radikale Demokratie nicht als Modellprojekte


„Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus 1 entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden“ 2, so beschreiben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest 1848 die Verhältnisse, die ihrer Meinung nach den Zwang zu einer neuen Gesellschaft beschreiben. Eine Gesellschaft zu welcher „der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.“ 3

Heute, 150 Jahre später, stehen wir vor einer gründlich veränderten Situation und entgegen der Tradition der marxistischen Interpretation des Kommunistischen Manifests sollen in diesem Referat die zentralen Begriffe des gesellschaftlichen Widerspruchs, der Revolution und der Demokratie nicht in den ökonomisch-soziologischen Kategorien der Klassen Proletariat und Bourgeoisie behandelt werden.

Warum?

Die Lösung des Pauperismus als Preis für gesellschaftliche Stabilität

Die Verelendung des Proletariats sowie der industriellen Reservearmee, die durch Produktivitätssteigerung vom Verkauf ihrer Lohnarbeit aktuell ausgeschlossen ist, wurde nicht zuletzt aufgrund der Marxschen Analyse und dem politischen Kampf der kommunistischen Bewegung von den modernen bürgerlich-kapitalistischen Staaten gestoppt. Marx und Engels hatten analysiert, daß sich im Zuge der Verelendung der Kapitalismus sein eigenes Grab schaufele. Die Konsequenz aus dieser Beschreibung läßt sich aber auch anders ziehen als Marx und Engels es taten. Nicht der revolutionäre Umsturz war die Folge, sondern eine radikale Modernisierung des Kapitalismus, der in seiner Entwicklung dem Staat eine neue Aufgabe übertrug. Zur Erhaltung der Existenzbedingungen des Kapitalismus zählt seitdem die Gewährleistung sozialer Stabilität. Dies geschieht durch hauptsächlich staatlich kontrollierte Sozialabgaben und aus dem allgemeinen Steueraufkommen.

Eine solche Lösung ist im Rahmen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht ungewöhnlich. Entgegen der wirtschaftsliberalen Ideologie der alleinigen Herrschaft des Marktes ist der Kapitalismus als Gesellschaftsform von einer Vielzahl von Grundbedingungen abhängig, unter denen sich überhaupt erst ein Markt konstituieren kann und Warenfluß möglich ist. Die Bereitstellung einer allgemein verfügbaren Infrastruktur und die gewaltsame Durchsetzung von Rechtsnormen standen dabei nie im Verdacht, kommunistische Projekte zu sein.

Im 19. Jahrhundert und noch in der ersten Hälfte des 20. zeigte sich zunehmend die Notwendigkeit, der destabilisierenden Wirkung existenzbedrohender Verarmung in den Zentren der kapitalistischen Produktion entgegen zu wirken. Daran hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn die als neoliberal bezeichneten Verteilungskämpfe der letzten Jahre zeigen, daß das Bestreben existiert, den Preis der Stabilisierung so gering wie möglich zu halten. Aber eine Alternative zum Einkauf des „sozialen Friedens“ existiert nicht, kann Gewalt die Bedingungen der kapitalistischen Produktion doch nicht dauerhaft sichern.

Die Aktualität der sozialen Frage als moralische Frage

Die kapitalistische Lösung der Verelendungsfrage ist nicht das Ende der Armut. Überall wo Armut keine Bedrohung für das Fortbestehen der kapitalistischen Ordnung ist, wird sie von der bürgerlichen Gesellschaft geduldet. Dies gilt insbesondere außerhalb der Zentren kapitalistischer Produktion. Die soziale Frage ist also keineswegs gelöst, aber statt der Motor der revolutionären Entwicklung zu sein, ist sie zur moralischen Frage geworden. Als solche kann sie weiterhin von einer radikalen Linken thematisiert werden, wie sie auch Thema in den weihnachtlichen Spendenaufrufen des Bundespräsidenten und der Welthungerhilfe ist. In dieser Frage zeigt sich weiterhin die Menschenverachtung der herrschenden Weltordnung. Trotzdem stellt sie keinen Widerspruch dar, der nicht systemimmanent zu mildern ist.

Revolutionärer Antifaschismus - Was ist das?

Wenn aber der drängendste Widerspruch, der das Verhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat zur Eskalation trieb, auch ohne die von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest vorausgesagte Revolution gemildert wurde, was ist dann die Bedeutung des Ausdrucks „revolutionäre Politik“?

In den letzten Jahren waren es hauptsächlich Antifagruppen, die mit linksradikalem Anspruch wahrnehmbare Politik betrieben und sich dabei das Attribut „revolutionär“ verpaßten. Bei der Antifaschistischen Aktion Berlin heißt es zu diesem „Revolutionären Antifaschismus“: „‚Revolutionär’ bedeutet die Ausrichtung auf grundsätzliche, fundamentale Umwälzung der bestehenden Lebensverhältnisse. Mit eingeschlossen ist dabei die Weigerung, sich auf die Spielregeln des Bestehenden einzulassen. Die einzige Zukunft, für die sich politische Anstrengung in welcher Form auch immer lohnt, ist das gründlich andere.“ Das klingt sympathisch, läßt den Motor einer revolutionären Politik jedoch mit der Hoffnung auf eine gründlich andere Zukunft im Dunkeln.

Was revolutionärer Antifaschismus in seiner politischen Bestimmung sein soll bleibt unklar. Zumal die politische Praxis revolutionärer Antifagruppen von der nicht-revolutionärer Antifagruppen mit einem linksradikalen Background kaum zu unterscheiden ist. Sehen wir einmal vom Rufen der Losung „Hinter dem Faschismus steht das Kapital!“ ab. Diese Unklarheit scheint selbst bei den ProtagonistInnen jener Politik zu bestehen, so daß vom Ruf nach der Revolution nur übrig bleibt, die antifaschistische Politik nicht zu kurz greifen lassen zu wollen.

Welche gesellschaftlichen Widersprüche sind grundlegend?: Bestimmung statt Mitbestimmung

Das von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest geschilderte Problem der Verelendung zeichnet sich durch seinen existentiellen Charakter aus. Wo es darum geht, durch eine ökonomische Krise oder durch einfache Steigerung der Produktivität um die Sicherung der eigenen Existenz gebracht zu werden, sind die Massen zum Handeln gezwungen. Ein derart existentieller Zwang zur Revolution ist derzeit in der BRD nicht zu erkennen. Das heißt jedoch nicht, daß auch schon die von Marx und Engels vorgeschlagene kommunistische Alternative, die Demokratie, verwirklicht wäre.

Während die Frage der Verelendung eine existentielle ist, handelt es sich bei der Frage nach den Herrschaftsverhältnissen um die hinter ihr stehende politische. Zu bestimmen, wer die Möglichkeit erhält, weiter zu existieren, und wer nicht, ist sicher der brutalste Ausdruck der kapitalistischen Herrschaft. Aber es ist nicht ihr einziger. Vielmehr ist die Ausübung von Herrschaft für den gesamten Bereich der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft charakteristisch. Im öffentlichen Bereich herrschen Verwaltungsapparate, Bürokratien, Sachzwänge (das heißt letztlich oft die Wahrung ökonomischer Interessen) und genauso wie im privaten Bereich Traditionen und Ideologien. Im ökonomischen Bereich herrscht der Profit als ultima ratio. Wer nicht herrscht, das ist die Masse der von den jeweiligen Entscheidungen Betroffenen. 4

Die Forderung nach der Macht ist für uns die Forderung, die Fragen des eigenen Lebens selbst aktiv gestalten zu können. Es ist die Forderung nach Selbstbestimmung, d.h. der Überwindung der bestehenden Herrschaft. Die Tradition der radikalen Linken hat gegen die marxistische Interpretationen, die Forderung nach Emanzipation von Herrschaft, nicht allein auf die ökonomische Sphäre beschränkt. In allen Bereichen des Lebens geht es um die Übernahme der Macht durch jene, die von ihrer Ausübung betroffen sind.

In allen Bereichen, in denen die radikale Linke in den letzten Jahrzehnten aktiv geworden ist, waren die Auseinandersetzungen vom Kampf der gesellschaftlich Ohnmächtigen gegen die Herrschaft bestimmt. Die Ohmacht zeigte sich immer dann besonders deutlich, wenn Projekte der Selbstorganisationen 5 an die Grenzen der staatlichen Toleranz stießen. Immer wieder wurde deutlich, daß die Duldung auf Selbstorganisation beruhender, politischer Strukturen entweder auf ständiger Auseinandersetzung mit staatlicher Gewalt(androhung) oder auf einer jederzeit widerrufbaren Gnade der Herrschaft beruht.

Für unsere eigenen Möglichkeiten, Politik zu machen, bedeutet dies, die fortwährende Stellung gegen den Staat in Kauf zu nehmen, bedeutet dies die Notwendigkeit, immer wieder Projekte auf unsicherem Boden zu beginnen und damit gleichzeitig den Aufbau eigener Strukturen voranzutreiben. Es gibt zu diesem Vorgehen keine Alternative, da eine Aufgabe eigener Strukturen die Integration in das System der Herrschaft und somit die Aufgabe eigener Politik bedeutet.

Es ist die Notwendigkeit dieser Erfahrung der Unsicherheit unserer eigenen Projekte und die damit verknüpfte sinnliche Erfahrung der Gewalt, die alle trifft, die wie wir politische Autonomie verwirklichen wollen, die Selbstorganisation und den aus ihr resultierenden Kampf gegen die herrschende bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als ein politisches Element erscheinen lassen, das verstärkt als politische Perspektive sichtbar gemacht werden sollte. Es ist eine solche Perspektive, die zum einen verschiedenste Auseinandersetzungen in ein politisches Projekt integrieren kann, zum anderen aber auch deutlich macht, daß die Auseinandersetzungen auf Widersprüchen basieren, die innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nur gemildert, nicht aber gelöst werden können.

Gemildert werden sie im Zuge der Integration dissidenter Positionen über die Angebote der Mitbestimmung. Diese Angebote der Mitbestimmung transformieren dissidente Politik in Modernisierungspotentiale, die im Rahmen der Herrschaftsstrukturen nutzbar gemacht werden. Im Unterschied zur Mitbestimmung geht es uns aber um die Wahrung unserer politischer Autonomie. Wir wollen nicht lediglich an der Herrschaft partizipieren, wir wollen eine grundlegende Transformation der Bedingungen der Bestimmung.

Deutschland: Die drohende Revolution des Mobs

Hier und heute von einer politischen Perspektive der Selbstbestimmung zu reden, fällt nicht nur aufgrund des thematischen Ausgangspunktes des Kongresses schwer. Wer heute in Deutschland eine Revolution erwartet, spricht wahrscheinlich von einer völkischen. Nach den Pogromen vom Anfang der 90er Jahre, nach den alltäglichen Erfahrungen nazistischer und rassistischer Gewalt im Zuge des fortschreitenden Verfalls der bürgerlich-demokratischen Kultur - die es im Osten nie gab -, läßt sich nicht unbefangen über den emanzipativen Charakter von selbstbestimmter Politik plaudern.

Was die Erinnerung an den Mob, der droht, die Straßen mit dem Blut der Opfer seiner Weltanschauung rot zu färben, deutlich macht, ist daß unser Projekt der Selbstorganisation immer wieder auch die Erfahrungen, Auseinandersetzungen und Widersprüche vermitteln muß aus denen es entstanden ist. Die Selbstermächtigung der Ohnmächtigen gegen die Herrschaft kann nur emanzipativ sein, wenn sie darauf ausgerichtet ist, eine vollständige im Sinne des bürgerlichen Universalismus zu sein. Der Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft, darf nicht ein Kampf gegen ihre humanistischen Ideale sein.

Revolution als Wendepunkt nicht als Ziel

Und noch ein nicht gerade üblicher Vorschlag ergibt sich aus einem auf Emanzipation gerichteten Projekt der Selbstorganisation. Die Hoffnung auf die Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, also die Hoffnung auf die Revolution, sollte grundlegend neu bewertet werden. Eine Revolution, sollte sie stattfinden, wäre nicht das Ziel politischer Selbstorganisation. Sie würde eine grundlegende Transformation der Macht bedeuten, eine neue Qualität und Bedeutung unserer Projekte, aber sie wäre keine Erlösung. Das heißt auch die wesentliche Bestimmung unserer Politik darf nicht allein darin liegen, was wir überwinden wollen, sondern sie muß zugleich die positive Bestimmung einer politischen Praxis sein, welche die Kontinuität nach der erfolgten alles umstürzenden Wende beinhaltet.

Damit ist nicht gemeint, daß detaillierte Pläne einer Zukunftsvision unsere Aufgabe sind. Vielmehr muß das Ende des Glaubens an die Revolution als Erlösung eine Stärkung der gegenwärtigen Politik im Hier und Jetzt zur Folge haben. Anstatt uns und andere auf die Früchte einer Zukunft zu verweisen, muß Politik die Möglichkeit zur alltäglichen Teilhabe an ihrem Projekt bieten.

Notwendigkeit der Organisierung

Ein politisches Projekt gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, daß die Entwicklung seiner eigentlichen Praxis nicht auf eine zukünftige Zeit verschiebt, eröffnet auch Lösungsansätze für ein Problem, das heute jeder emanzipativen Politik als entscheidender Widerstand entgegenstehen. Es ist die Macht des Faktischen, die Existenz zahlreicher, sich gegenseitig stützender und entwickelnder Reproduktionsmechanismen, die eine beständige Wiederkehr des Herrschenden so unausweichlich erscheinen lassen. Gegen diese Reproduktion, die nicht nur eine der Herrschaft ist, sondern gleichzeitig das Fortbestehen der gesamten gesellschaftlichen Sphäre sichert, erweist sich eine Erlösungsvorstellung leicht als machtlos. Sie muß utopisch erscheinen in ihren Versprechungen und apokalyptisch für eine Realität, die viel reicher ist, als es eine utopische Erzählung jemals sein könnte.

In diesem Sinne ist eine Revolution ein unrealistisches Vorhaben, das auf die Verzweiflung der Menschen angewiesen wäre. Anders jedoch, wenn die Aneignung der Macht nicht als plötzlicher Entschluß erwartet wird, sondern aus der Entwicklung der Organisationsformen einer neuen Politik resultiert. Diese Entwicklung können wir als unsere grundlegende Aufgabe betrachten. Das wichtigste ist dabei aber nicht die Organisation, sondern ihre permanente konkrete Vermittlung und Weiterentwicklung.

Das Problematische der Selbstorganisation

Wenn die Organisation politischer Autonomie im Mittelpunkt eines Projektes steht, so liegt die Gefahr auf der Hand, daß die Organisation, in ihrer Funktion dem Politischen Räume zu erhalten, in denen es sich entfalten kann, zum eigentlichen Wert, zur um jeden Preis zu erhaltenden Größe wird. Mit einem Wort, daß sie das Politische verdrängt.

Das Problem ist nicht neu und trotzdem sind unsere eigenen Diskussionen zu den emanzipativen Grundlagen der Selbstorganisation weit hinter einen Stand zurückgefallen, den sie einmal erreicht hatten. Wir können deshalb hier nur ein paar der Probleme benennen, die bei der Bestimmung unseres Selbstverständnisses eine Rolle spielen müssen.

• Wie kann der Organisierung das vereinheitlichende Moment von Aktionen und Denken genommen werden? Wie kann gemeinsames politisches Handeln das Moment der Vielfältigkeit bewahren oder schaffen?

• Wie kann es die Organisierung vermeiden, sich durch ein Außen, eine Gegnerschaft zu bestimmen? Wie kann politische Praxis produktiv statt negativ bestimmt werden?

• Wie kann sich die Organisierung vom Anspruch auf den Besitz der Wahrheit und der aus ihr folgenden politische Aktion glaubhaft lösen?

• Wie begegnen wir der Gefahr, angesichts der allgegenwärtigen politischen Reaktion einfach bürgerlichen Idealen verhaftet zu bleiben?

• Wie kann die Organisierung der Forderung, „Verliebe Dich nicht in die Macht!“, genügen?

Die Organisation politischer Autonomie steht vor der Aufgabe, in sich Dissidenz nicht zu disziplinieren oder aus sich auszuschließen und gleichzeitig Handlungsfähigkeit und Auseinandersetzung zu ermöglichen.

Radikale Demokratie nicht als Modellprojekte

Worum es uns geht ist also insgesamt folgendes:

Den Widerstand gegen das Herrschende anhand konkreter Auseinandersetzungen zu organisieren, die den Widerspruch zur Herrschaft immer wieder erfahrbar machen. Die konkreten Auseinandersetzungen sind der Inhalt der Selbstorganisation, ohne daß diese mit dem Ende der jeweiligen Auseinandersetzung auch ihr eigenes erreicht hat. Die konkreten Auseinandersetzungen sind Anstoß und Punkte der Weiterentwicklung von Selbstorganisation. Eine Organisierung ist das Mittel, Auseinandersetzungen überhaupt führen zu können und sie ist gleichzeitig unsere Möglichkeit, unserer Dissidenz eine politische Perspektive zu geben.

Damit ist unsere Politik an die gesellschaftliche Wirklichkeit gebunden. Sie zieht sich nicht aus dem politischen Raum in private Nischen zurück oder emigriert ins Theoretische und Vage. Und trotzdem bleibt uns die Möglichkeit, nicht im Faktischen zu ertrinken, dessen Anerkennung auch für uns immer wieder unumgänglich wird.

So betrachtet ist auch der Kampf gegen Nazis, den uns unser Realitätssinn in den letzten Jahren aufgezwungen hat, nicht eine Ablenkung von „wirklicher“ linksradikaler Politik gewesen. Eine solche Ablenkung hätte im Gegenteil vorgelegen, wenn wir das gesellschaftliche Problem Nazis einfach ignoriert hätten. Die Politik der letzten Jahre, obwohl es uns nicht gelungen ist, die Nazis aus dem gesellschaftlichen Raum zu verdrängen, hat uns beim Aufbau eigener Strukturen genützt. Wobei jeder Erfolg erneut die Notwendigkeit in sich barg, unsere Politik weiterzuentwickeln. Auf diesem Weg haben wir viele Problem nicht lösen können. Bis heute sind wir weit davon entfernt, eine echte Option gegen die herrschenden Verhältnisse oder eine Gruppe des revolutionären Antifaschismus zu sein.

 1Massenverelendung

 2MEW, Bd. IV, S.473

 3MEW, Bd. IV, S. 481

 4Im Gegensatz zur individuellen Erfahrung des Beherrscht-seins ist die Ausübung von Herrschaft ein komplexer gesellschaftlicher Vorgang, der fest mit der allgemeinen Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse durch alle ihre Mitglieder verbunden ist. Der Verzicht darauf, diesen Zusammenhang der Ausübung von Herrschaft auf ihre Repräsentanten reduzieren zu wollen, bedeutet für uns nicht, in je konkreten Situationen individuelle Verantwortung bei Entscheidungen und ihrer Durchsetzung zu leugnen.

 5Hier und im folgenden benutzen wir den Begriff der Organisation/Organisierung in ihrer Alltagsbedeutung völlig unkritisch. Bei einer genaueren Analyse wäre zu beachten, daß Wortbildung und ihr korrespondierende Tradition auf die im 19. Jahrhundert entstandene Metapher des Staates als Organismus zurückgehen, was leicht zu Verirrungen bei der Analyse gesellschaftlicher Phänomene führt.


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