Selbstorganisation – Radikale Demokratie

Marc Mulia


Radikale Demokratie ekelt jede rechte Ideologie an. Der Grund dafür liegt in einem substantiell anderen Demokratieverständnis. Radikale Demokratie bedeutet eben nicht die Herrschaft der Mehrheit, wie Demokratie heute oft verstanden wird, sondern die größtmögliche Freiheit jeder einzelnen ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Grundlegend für eine solche Vorstellung ist die Annahme, daß alle Menschen gleich sind, d.h. daß sie gleichwertig sind und die gleichen Möglichkeiten zu Leben haben sollten. Es geht in erster Linie gerade nicht darum, Entscheidungsverfahren gerecht zu gestalten, was natürlich auch wichtig ist, sondern gleiche Freiheiten materiell zu ermöglichen.

Ein solches Denken ist aus rechter Sicht nicht zu akzeptieren, beruhen doch Rassismus und Nationalismus genau auf der gegensätzlichen Annahme, nämlich daß es grundlegende Unterschiede zwischen Menschen gibt, die für die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgesprochen relevant sind. Auch Autoritätsdenken und Sozialdarwinismus, die gleichermaßen das Recht des Stärkeren betonen, stehen in krassem Widerspruch zu einer radikalen Demokratie.

Die Frage ist nun, was passiert, wenn zwei so grundlegend gegeneinander gerichtete Grundüberzeugungen aufeinander treffen. Dabei muß beachtet werden, auf welchem Weg die jeweiligen Zielvorstellungen realisiert werden sollen. Dies ist in weiten Teilen ebenfalls durch die dargestellten Grundüberzeugungen vorgegeben. Während rechte Konzepte im Zweifel mit dem Recht des Stärkeren durchgesetzt werden, sind Aufklärung und Überzeugungsarbeit klassische Mittel der Linken.

Gemeinsam ist beiden Seiten die große Bedeutung von persönlichen Lebenserfahrungen sowie des sozialen und kulturellen Umfeldes. Gerade für die Entwicklungen der letzten Jahre ist die Übernahme des Konzeptes kultureller Hegemonie durch Rechte kennzeichnend. Dabei haben sie es prinzipiell viel schwerer als Linke. Schließlich ist die radikaldemokratische Botschaft, daß jede eine möglichst große Freiheit zur Bedürfnisbefriedigung bekommen soll, doch eigentlich vielversprechend.

Daß dennoch zur Zeit in vielen Regionen sich eine rechte Hegemonie breit macht, liegt wohl daran, daß viele Menschen die Verheißungen der Linken nicht mehr glauben können. Täglich werden sie mit neoliberaler Ideologie (Wettbewerb muß sein, Standort muß gesichert werden) und dem Gerede von leeren Kassen konfrontiert. Beides suggeriert, daß der Kuchen nicht groß genug für alle ist und daß es deshalb GewinnerInnen und VerliererInnen geben muß.

Um also den Erfolgen rechter Hegemonie entgegenzuwirken wird es nötig sein, vor allem in der theoretischen Auseinandersetzung wieder in die Offensive zu kommen und den neoliberalen Diskurs zu durchbrechen. Eine linke Perspektive kann nur MitstreiterInnen gewinnen, wenn sie überhaupt als realistische Perspektive erscheint, d.h. als eine, die den Menschen glaubhaft ein besseres Leben als heute versprechen kann.

Die Forderung nach einer radikalen Demokratisierung der Gesellschaft ist heute so richtig wie eh und je. Es wird darauf angekommen, durch vielfältige Handlungsansätze sowohl Überzeugungsarbeit zu leisten, als auch ein radikaldemokratisches Lebensgefühl zu stärken. Dazu gehört auch die Schaffung von Freiräumen, in denen ein gleichberechtigtes/demokratisches Umgehen selbstverständlich wird. Solche Freiräume haben eine Stärkungsfunktion für die, die in ihnen leben, vor allem aber haben sie eine Vorbildfunktion nach außen.

Um mit einer solchen Strategie Erfolg zu haben, ist ein abgestimmtes Handeln im größeren Maßstab notwendig. Freiräume kann man zwar im kleinen Erkämpfen, den herrschenden neoliberalen Diskurs wird man aber nicht auf kommunaler Ebene durchbrechen können. Eine gesellschaftliche Utopie kann man auch in kleinen Gruppen diskutieren, der Glaube an ihre Umsetzbarkeit braucht aber einen größeren Rückhalt. Die Forderung nach radikaler Demokratie hat den großen Vorzug, daß sie Anhaltspunkte für eine schrittweise Realisierung bietet. Im Gegensatz zu solchen Theorien, bei denen das gut Ziel die schlechten Mittel heiligen, ist die radikale Demokratisierung der Gesellschaft Zweck und Mittel zugleich.


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