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organisiert von der Leipziger übergreifenden Arbeitsgruppe Delitzsch |
Innerhalb weniger Monate hat sich die Stadt Delitzsch (ca. 25 km nordöstlich von Leipzig) und ihr Umland zu einem Ort entwickelt, an dem sich die Nazis mit brutalem Terror die Straßen freiprügeln, Wohnungen und öffentliche Einrichtungen überfallen, Jugendclubs übernehmen und alle anderen hinausdrängen konnten, die sie getreu ihres beschränkten menschenverachtenden Weltbildes zu Feinden auserkoren haben.
Inzwischen gilt Delitzsch als Tummelplatz, an dem die Nazis nichts ernsthaftes zu befürchten haben.
Möglich geworden ist dies durch die Duldung und Zuarbeit der örtlichen verantwortlichen Behörden und Politiker.
Diesen Zustand nennen wir einen ungeschriebenen “Pakt” zwischen örtlichen Behörden und Nazis, den wir angreifen und zerschlagen wollen. D. h., wir müssen die Verantwortlichen zwingen, die faktische direkte und indirekte Zuarbeit und Kooperationsbereitschaft gegenüber den Nazis aufzukündigen. Denn nur so ist die Naziszene wirksam zu bekämpfen.
Die lokale Dimension: Der Delitzsch-“Pakt” –
eine Spitze eines Eisbergs
Im Deutschland wurde seit der Wiedervereinigung vor zehn Jahren ein lokalpatriotischer Reflex kultiviert, der lokale Verantwortungsträger von Behörden und Politik in die Lage versetzt, Nazis und deren Strukturen vor Ort auf lokaler Ebene nicht unbedingt wahrnehmen zu müssen. Und das funktioniert so: Alle wissen zwar, daß es in Deutschland Nazis und entsprechende Strukturen gibt, nur werden diese nur allzu selten eben vor Ort wahrgenommen. Schweift der Blick des verantwortlichen Lokalpatrioten in die deutsche Ferne, so wird recht schnell klar, daß es Neonazis gibt bzw. geben muß. Es steht in der Zeitung, es kommt im Fernsehen und es wird auch in der einen oder anderen Sonntagsrede von Bundespolitikern erwähnt. Nun aber der Effekt. Wenn der Blick dann auf die lokalen Begebenheiten fällt, verändern sich die ausgemachten Nazis peu a peu in jene, die dann allzugern als “unsere Kinder” bezeichnet werden: Aus den hartbesaiteten Neonazis der Ferne werden bemitleidenswerte “Mitläufer” und nette Menschen von nebenan.
Getreu diesem Schema gibt es mal mehr mal weniger lokales Problembewußtsein. Genau dieses einschlägige Problembewußtsein ist es, so hat es sich über die Jahre gezeigt, das vorgibt, welcher qualitative Nährboden den Nazis vor Ort bereitet wird. Und so gibt es bei aller flächendeckenden Problemlage – gerade in Ostdeutschland – braunere und weniger braune Flecken.
Ein Ort, der sich in Windeseile auf der Landkarte zum braunen Fleck entwickelt hat, ist Delitzsch bei Leipzig.
Eine gebündelte Form von Ignoranz, Unfähigkeit, Verlogenheit und direkter Zuarbeit seitens der verantwortlichen Behörden und Politiker hat den Nazis hier lokal eine Relevanz verschafft, von der sie wahrscheinlich noch vor geraumer Zeit nicht mal zu träumen wagten.
Innerhalb weniger Monate hat sich Delitzsch und Umgebung zu einem Ort entwickelt, an dem sich die Nazis mit brutalem Terror die Straßen freiprügeln, Wohnungen und öffentliche Einrichtungen überfallen, Jugendclubs übernehmen und alle anderen hinausdrängen konnten, die sie getreu ihres beschränkten menschenverachtenden Weltbildes zu Feinden auserkoren haben.
Inzwischen gilt Delitzsch in der Naziszene als in. Entsprechend treffen sich Nazis aus nah und fern Woche für Woche in der Stadt – ein Tummelplatz, an dem die Nazis nichts ernsthaftes zu befürchten haben.
Delitzsch ist inzwischen der Ort, an dem Opfer von Naziüberfällen von der Polizei zusammengeschlagen werden und mit Ermittlungsverfahren überzogen -wo gegen Nazis trotz Zeugenaussagen nicht ermittelt wird-wo die Stadtverantwortlichen die Nazis zu Gesprächen aufsuchen und einladen-wo ihnen zur Belohnung für die vielen Überfälle und Angriffe ein eigener Club (“nur für die Rechten”) angeboten wird, in dem als Krönung einer der führenden Delitzscher Nazis, Maik Scheffler, auch noch als zuständiger Sozialarbeiter durch die Stadt angestellt werden sollte-wo der Naziterror zum Phänomen von allgemeiner “Gewalt” verklärt wird-wo trotz Verbotes Neonazis in Ruhe eine Demonstration durchführen können und linke Demos deshalb verboten werden, weil sie durch die Staatsgewalt nicht gegen Naziübergriffe “geschützt” werden könnten, der Oberbürgermeister Bienek von “den Ausländern” verlangt, daß sie sich gefälligst in Deutschland so zu benehmen hätten, wie es sich “gehört”, wo der Ausländerbeauftragte für den Landkreis den Neonaziterror als “vielmehr Streit zwischen Jungs-wo der eine dem anderen das Mädchen ausspannt” verharmlost, wo Konzerte gegen Faschismus und Plakataktionen selbst der PDS mit der Begründung verboten werden, daß sie nichts weiter als “Provokationen” gegenüber den Nazis darstellen würden und so weiter und so fort.
Dieser Zustand bezeichnet jenen unausgesprochenen und nicht zu Papier gebrachten “Pakt”, von dem hier im Motto dieses Aufrufes die Rede ist. Es ist der “Pakt” zwischen örtlichen Behörden, lokalen Politikern und Nazis.
Daß eine Situation wie in Delitzsch nur eine Spitze eines Eisbergs ist, wissen in Deutschland spätestens seit diesem Sommer auch die letzten Deppen. Umso unglaublicher ist es, was hier in Delitzsch zu erleben ist. Ziemlich deutlich zeigt sich im Falle Delitzsch, welches Gefälle nach wie vor zwischen Wort und Tat besteht: auch in Delitzsch sind natürlich alle im Sinne des angesagten Zeitgeistes “gegen Rechts”, “gegen Intoleranz” u.s.w. Doch daraus folgt automatisch nicht nur nichts, sondern es kann sogar aktives Dulden und Hofieren herauskommen, wie es eben in Delitzsch zu erleben ist.
Erst das Verhalten der Verantwortlichen in Delitzsch hat den Nazis jene Relevanz verschafft, die sie nun innerhalb der Naziszene besitzen: die Nazis in Delitzsch haben in der Szene inzwischen einen Ruf zu verlieren, den es zu verteidigen gilt, denn die Delitzscher “Kameradschaft” zählt mittlerweile etwas in “Kameradenkreisen”.
Wie anders als eine Art von Kopfgeld für genügend Opfer müssen die Delitzscher Nazis das Angebot verstanden haben, ihnen zur Belohnung für den brutalen Terror einen eigenen Club von Stadtseite zur Verfügung stellen zu wollen?!
Mehrere Gesprächsangebote gab es seitens der Stadt Delitzsch – nach jedem neuerlichen Höhepunkt brutaler Übergriffe wurde dieses Angebot erneuert. Man müßte mit ihnen reden, man dürfte sie nicht einfach ignorieren, sie dürften nicht – kein Witz – “augegrenzt” werden, so hieß es offiziell. Nicht eine ähnliche Verlautbarung oder Angebote dieser Art gab es an die Opfer der Nazis. Nicht ein einziges Mal hat der Oberbürgermeister oder sein Stellvertreter sich die Mühe gemacht, mit den Opfern des Naziterrors überhaupt zu sprechen.
Da kam es ihnen wohl mehr als gelegen, als sich die in Delitzsch in Plattenbauten ghettoisierten sogenannten Aussiedler aus Rußland die alltäglichen Pöbeleien und Angriffe der Nazis nicht mehr gefallen lassen wollten und zum Selbstschutz griffen. Als Problem mit “rivalisierenden Jugendbanden” war von nun an nur noch offiziell die Rede.
Nicht unerwähnt darf bleiben, daß genau jene sogenannten Rußlanddeutschen, die ja nur über das völkische Blutsgesetz des deutschen Staatsbügerrechtes zu Deutschen gemacht werden und nur deshalb in den Genuß einer Einreise und Einbürgerung gelangen dürfen, letztlich überhaupt nur ins Visier der Delitzscher Nazis gelangen konnten, weil sie von den Verantwortlichen eben ghettoisiert werden, quasi isoliert von der Restbevölkerung einquartiert wurden. So erst wurde das Fremde produziert, das als störend und lästig empfunden wird. Der kausale Zusammenhang zwischen denen, die das Fremde erst machen (die Behörden und die Politik) und denen, die diese Fremden dann bekämpfen (die Nazis und ihre Sympathisantinnen und Sympathisanten) muß immer wieder benannt und verdeutlicht werden. Nicht von ungefähr zeigt der Oberbürgermeister nur allzudeutlich, was er von jenen besagten Aussiedlern hält, wenn er gegenüber der Berliner Zeitung (v. 05.09.2000) erklärt: “Ich muß doch hier noch sagen dürfen, daß die Aussiedler in Delitzsch-West provokativ ständig russisch sprechen. In ihrer alten Heimat sprachen sie doch deutsch. Wo bleibt denn da der Grund, daß sie überhaupt hergekommen sind?” Diese Äußerung offenbart nur allzudeutlich, warum der Oberbürgermeister Bienek selbst über Rücktrittsforderungen an ihn seitens der Landes-PDS nur arrogant schmunzeln kann: er wähnt sich fest im Amtssattel.
In Delitzsch herrscht eine allgemeine Hysterie. Überall gehe “Gewalt” um, man könne sich nicht mehr auf die Straße trauen u.s.f. In dieser Hysterie wird aber nicht nach Ursachen gesucht, sondern folgerichtig nur Symptome benannt. Denn wer ein Neonaziproblem nicht sehen will, kann es auch nicht orten, sondern nur an der Oberfläche herumstochern. Genau dieses Herumstochern aber schürt noch mehr Ängste und führt zu verstärkten Rufen nach Sicherheit und Kontrolle. Und so wird das subjektive Scherheitsempfinden recht schnell zu einem Sicherheitsbedürfnis, das innerhalb der sogenannten Normalbevölkerung wechselseitig geweckt und in die Höhe geschraubt wird. Ausdruck davon ist die inzwischen installierte Überwachungskamera in Delitzsch-West an der dortigen Shell-Tankstelle – DER nächtlichen öffentlichen Erlebnis-Oase einer ostdeutschen Kleinstadt - und die Schließung derselben an den Wochenenden von abends bis morgens.
In Delitzsch wird sich erst wirklich etwas ändern, wenn der Druck die Verantwortlichen zum Handeln und Umdenken nötigt. Anders scheint es auch in Delitzsch nicht zu funktionieren.
Erst wenn absolut klar ist, daß mit Nazis nicht geredet wird, daß ihnen kein eigener Club zugestanden werden darf, daß ihnen nicht die sogenannte akzeptierende Jugend- und Sozialarbeit zuteil werden kann, sie rigoros ausgegrenzt werden müssen und von ihren Mitläufern isoliert gehören, die potentiellen Opfergruppen mit ihren Problemen in den Mittelpunkt der Politik rücken müssen, nur antifaschistische und antirassistische Ansätze jeglicher Coleur entsprechend bewertet und gefördert werden können - es sozusagen einen tatsächlichen politischen Paradigmenwechsel in Delitzsch gibt, der die Nazis als wirkliches Problem betrachtet, bekämpft und zurückdrängt und die Verbindungen zwischen der Normalbevölkerung - dem sogenannten Stammtischrassismus - und den Neonazis in die Politik-Konzepte explizit einbezieht und eben nicht so tut, als würden Nazis vom Himmel fallen, nun erst dann wird sich überhaupt eine Problemlösung abzeichnen.
Die nationale Dimension: Deutschland im Griff der Nazis oder der Berliner Republik?
Wer immer noch der Annahme ist, die sogenannte Berliner Republik von Schröder und Fischer wäre die Bonner Republik von Kohl und Genscher (wahlweise Kinkel), muß sich eines besseren belehren lassen. Das derzeitige öffentliche Spektakel gegen Nazis, den “Rechtsextremisten”, ist weniger ein Sommerlochtheater als zu vermuten steht. Trifft also in diesem Fall der alte Kalauer, daß alles eine Ende hat und nur die Wurst zwei, wirklich den Punkt? Nun, Figuren wie Scharping, Naumann, Fischer, Schily, Schröder, Vollmer oder Trittin sind tatsächlich die Kronzeugen eines zur Staatsdoktrin gewordenen Anti-Faschismus, wie er im laufe der Zeit Ergebnis des praktizierten Marsches der einstmaligen 68er IN die Institutionen des heutigen Deutschlands wurde. Dieser neue Charakter der sogenannten Berliner Republik ist natürlich nicht ohne Kohl und Co. und den intellektuellen Vordenkern der deutschen Berliner Zeiten wie Enzensberger, Walser, Botho Strauß u.a. oder Figuren wie Habermas und Ernst Nolte denkbar. Sie haben bereits 1982 mit der losgetretenen “geistig-moralischen Wende” in der alten Bundesrepublik die Saat ausgebracht, deren prachtvolle Ernte erst durch die Wiedervereinigung und dem Ende des sogenannten Real-Sozialismus eingefahren werden konnte. Insofern läßt sich vereinfacht konstatieren: die von der CDU/CSU/FDP auf den Weg von Bonn nach Berlin gebrachte Bundesrepublik, ist folgerichtig im Zielbahnhof Rot/Grün angekommen.
Die ehemaligen 68er und Staatstragenden von heute mußten z.B. im Gegensatz zu Helmut Kohl niemals ihre eigene (z. B. HJ-) Vergangenheit mit dem Verweis auf die “Gnade der späten Geburt” schönreden.
Genau in diesem Bereich zwischen Gesellschaft und individuellen Biografien liegt auch ein entscheidender Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland begründet, dessen untrüglicher Ausdruck heute die quantitativen und qualtiativen Unterschiede des Neonazi-Terrors zwischen Ost- und Westdeutschland sind. So gab es in der DDR neben dem vom Grundsatz her richtigen sogenannten verordneten Antifaschismus nicht zu viel, sondern zu wenig Antifaschismus, wodurch eine individuelle Auseinandersetzung gerade in der eigenen Familie, der eigenen Biografie viel viel zu kurz kam und in dem Maße auch gar nicht erwünscht war. In der Bundesrepublik hingegen gab es weder eine Form von verordnetem Antifaschismus noch eine andere vergleichbare. Stattdessen gab es ein Verstecken hinter dem Marshallplan, der Ludwig Erhardschen Parole vom “Wohlstand für Alle” und der zunehmenden Anerkennung der gleichmacherischen Totalitarismusthese. Erst die 68er, empört über den damaligen Vietnam-Krieg, entwickelten ein neues antifaschistisches Unrechtsbewußtsein, das neben der revolutionären Verbalradikalität in Teilbereichen auch gesellschaftstragende Instanzen wie Familie, Schule, Universitäten, die Justiz oder die Armee ins Visier der Kritik nahm. Die 68er “erschufen” gerade auf dem Feld eines antifaschistischen Unrechtsbewußtseins eine gesellschaftliche intellektuelle Schicht, die sich selbst als linksliberale Öffentlichkeit begriff und begriffen wurde. Es ist also zu konstatieren: Im Vergleich zwischen BRD und DDR wurde in ersterer eine teilweise individuelle Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit durch die 68er erkämpft und dadurch in breiteren gesellschaftlichen Kreisen ein Problembewußtein erzeugt. Eine antifaschistische Staatsdoktrin wie in der DDR - wenn auch dort eine sehr verengende und monopolisierende - gab es jedoch in der Bonner Republik nie. (Oder anders: Im Vergleich zu Österreich wäre es beispielsweise für eine Person wie Jörg Haider im heutigen Deutschland um einiges schwerer, an die Macht zu kommen. Eine totale Verdrängung der NS-Vergangenheit wie in Österreich kam nicht zustande – nicht zuletzt dank 68er.)
Tatsächlich drückt sich darin der Unterschied zwischen sogenannter Bonner und Berliner Republik aus. Ob uns das nun paßt oder nicht: Diese neue deutsche Republik ist von einem anti-faschistischen Konsens getragen, der zwar nicht links oder einfach rechts, sondern ein instrumenteller, tendenziell europäischer im Sinne der EU-Politik ist. In erster Linie liegt diesem Konsens nicht die Bewältigung von Geschichte, als vielmehr ihre “Einordnung” (Zitat Steffen Heitmann, noch unter Kohl 1994 mit dieser Pämisse als Kandidat für das Bundespräsidentenamt gescheitert) zu Grunde. Daß dabei diese Form von “Einordnung” den Nazismus in Deutschland als “Betriebsunfall” begreift, der sich eben nicht mehr trotz, sondern gerade wegen dieses geschichtlichen “Ausrutschers” wunderbar benutzen und instrumenalisieren läßt, verdeutlicht erst das Problem: Im Namen dieses neuen deutschen anti-faschistischen Konenses, um angeblich “ein zweites Auschwitz” immer und überall zu verhindern, wird ein somit “humanistisch” und “menschenrechtlich” legitimierter Angriffskrieg gegen die Republik Jugoslawien geführt, dessen Sinn nur verstehen kann, wer den neuen alten imperialistischen Charakter des Berliner Deutschlands im Großmachtstreben und in Konkurrenz zu den anderen kapitalistischen Großmächten verortet. Daß diesen Krieg im Kosovo in dieser todbringenden, zerstörerischen brutalen Konsequenz eben keine Kohl-Regierung hätte führen können, macht letztlich in dieser Hinsicht einen Unterschied ums Ganze – ebenso wie hinsichtlich der Entschädigungszahlungen für ehemalige Zwangsarbeiter, dem sogenannten Holocaustdenkmal, zu dem die Deutschen “gerne” gehen können sollen (Gerhard Schröder) oder die Rede des Schriftstellers Martin Walser anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, zu der der erste Bundeskanzler der neuen Berliner Republik nur feststellte, daß “ein Schriftsteller das sagen können (müßte), ein Bundeskanzler aber nicht”. D. h., auf keinem anderen Feld ist der Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün, wenn überhaupt wahrnehmbar, so eklatant wie auf dem hier beschriebenen.
Letztlich nur in dieser beschriebenen Lesart läßt sich die derzeitige Kampagne gegen die deutschen Neonazis begreifen. Sie offenbart, daß der Vorwurf der geheuchelten Betroffenheit als Sommerlochtheater nur zum Teil stimmt. Wie schon gesagt, hätte diese Kampagne nicht so ohne weiteres von Kohl und Co. ausgehen können.
Darüberhinaus muß festgestellt werden, daß der rechte Konsens, wie er noch vor Jahren gerade von linksradikalen Antifagruppen immer wieder propagiert wurde, in der abgewandelten Form, daß die Neonazis eben aus der Mitte der Gesellschaft kommen, zum Allgemeingut selbst eines jeden parlamentarischen Hinterbänklers und von Sozialarbeitern geworden ist. Dieses neue Problembewußtsein führt in aller Regel zu einer geänderten Alltagspraxis gegen Nazis, deren von “Law and Order” (Tony Blair, englischer Premierminister) gekennzeichneter Charakter erst in zweiter Linie ein spezifisch deutscher, von sogenannten traditionellen deutschen Sekundärtugenden wie Ordnung, Fleiß oder Disziplin geprägter ist. Der ökonomisierte Blick auf die Nazis unter den Bedingungen der sogenannten Globalisierung läßt selbige im verstärkten Maße zum störenden Problem, also störenden Standort-Faktor werden. Möglicherweise ist die quasi von “Oben” - von staatlicher Seite – verordnete Kampagne gegen die Nazis eine Art Zäsur, die die verantwortlichen Politiker wie alle anderen Anhänger und Verfechter der sogenannten Zivilgesellschaft nachhaltig dazu anhalten soll, nach dem Prinzip vom globalen Denken und lokalen Handeln tatkräftig an der europäischen Harmonisierung im Sinne einer staatlichen Monopolisierung von Rassismus zu werkeln – nach dem Motto: ‚Schöner unsere Städte und Gemeinden innerhalb der Festung Europa, in die so gut wie kein Flüchtling mehr eindringen soll und darf, damit der Wohlstand zumindet auch für die Mehrheit der Deutschen und anderen Europäer reicht‘. Diese Monopolisierung von Rassismus, geprägt vom vielzitierten neuen Europäischen Geist der EU, drückt sich zum Beispiel in der Praxis von zunehmender Abschottung, eingeschränktem Asylrecht, Abschiebungen, Kriminalisierungen, schärferen Gesetzen oder der Einschränkung und Abschaffung von bürgerlichen Gundrechten aus.
In Anbetracht dieser Entwicklung stellen sich folgende Fragen: Benötigt der vor Jahren apostrophierte rechte Konsens von Nazis, Behörden und Bevölkerung trotz regionaler und lokaler Ausformungen die Nazis noch in dieser Qualität wie noch anfang der 90er, als die Nazis quasi von staatlicher Seite zur faktischen Abschaffung des Asylrechts intrumentalisiert wurden und deshalb unbehelligt morden und brandschatzen konnten? War die Toleranz der Kohl-Regierung und die anfängliche von Rot-Grün eine Art Bonus für die nützlichen Nazi-Idioten, der jetzt endgültig aufgebraucht ist? Begreift die sogenannte Mitte der Gesellschaft nun, daß Nazis in ihrer Reihe keinen Platz haben dürfen und sich der Schoß der Gesellschaft, aus dem die Nazis kriechen, in dieser Hinsicht ändern muß?
Wir dürfen bei der Beantwortung dieser Fragen keinen falschen Zynismus entwickeln: Die alltäglichen Fakten sprechen eine brutale, menschenverachtende Sprache, die solche gestellten Fragen selbstredend und vordergründig ad absurdum führen. Aus dem zwingenden Interesse an einer linken und linksradikalen gesellschaftskritischen antifaschistischen Politik müssen wir uns diese aber dennoch stellen, wenn wir unseren eigenen zu setzenden politischen Spielraum ausloten wollen und gar hinsichtlich eines möglicherweise veränderten gesellschaftlichen Problembewußtseins unsere eigene Existenzberechtigung als linke und linksradikale Antifaschistinnen und Antifaschisten gar zur Disposition stellen müssen.
Der deutsche Alltag ist von Naziterror bestimmt, den ein Verfassungsschutz (VS) nach wie vor unendschuldbar schön redet: So meldete der VS 1991 insgeamt 1 483 rechte Gewalttaten der Nazis, heute heißt es in offiziellen Angaben, es seien ‚nur‘ 849 registrierte Fälle. Für 1994 werden nach dem gleichen Schema 705 Fälle weniger ausgewiesen. Insgesamt 3 953 Gewaltverbrechen von Nazis, in der Zeit von 1989 bis 1999, können in dieser Übersicht des Bundesamtes als spurlos verschwunden gelten (Angaben nach: Neues Deutschland vom 20.09.2000).
Daß darüberhinaus ohnehin eine Dunkelziffer existiert, prägt das Verständnis vom alltäglichen Naziterror und gerät dadurch allzu leichtfertig aus dem Blick.
Die unzähligen Pöbeleien, Übergriffe und Diskriminierungen scheinen nur dann im Alltag aufzuhören, wenn die Nazis ihre ausgemachten “undeutschen” Feinde vertrieben haben oder so eingeschüchtert, daß diese nicht mal mehr Mucks zu sagen sich getrauen, ihnen also die realen konkreten Feinbilder getreu ihrem rassistisch-völkischem Weltbild so abhanden gekommen sind. Insofern ist jede vermeintliche Ruhe in einer Gemeinde, in einer Stadt, in einer Region, wo noch vor kurzem eine starke Naziszene zu Werke ging, genau unter diesem Aspekt zu betrachten. Nach dem Motto: Ist die angebliche Ruhe nicht gerade deshalb eine, weil den Nazis die ‚Feinde‘ ausgegangen sind?
Und alle zusammen: Die Linke, Delitzsch und wir
Wenn in Delitzsch demonstriert werden soll, dann nicht zuletzt deshalb, weil es trotz deutscher Anti-Nazi-Stimmung von Oben bitter nötig ist, sich mit den wenigen vor Ort Aktiven solidarisch zu erklären, die den Nazis und der dortigen Situation die Stirn bieten. Damit soll jenen der Rücken gestärkt werden, die auch in Delitzsch eine kleine Minderheit darstellen. Ihnen soll verdeutlichet werden, daß sie im Kampf gegen Nazis, Rassismus und Antisemitismus nicht auf sich allein gestellt sein müssen.
Uns als linke und linksradikale Antifaschistinnen und Antifaschisten geht es immer auch um das Aufzeigen des Zusammenhanges zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Faschismus. Es ist der bürgerlichen Gesellschaft eigen, das hat die Geschichte gezeigt, daß sie den Faschismus als Option zur Bewältigung einer hausgemachten Krise benötigen kann, in dem der Ausweg in der Barbarei des Faschismus enden soll.
Wir wissen, daß all jene, die für eine couragierte Zivilgesellschaft eintreten, diesen Zusammenhang negieren oder im Glauben an die Allmacht der bürgerlichen Demokratie nicht sehen können. Das heißt aber absolut nicht, daß wir nicht jedes Engagement gegen Faschismus, Rassismus und Antisemitismus unterstützen und akzeptieren würden.
Die Perspektive einer zeitgemäßen radikalen Linken ist derzeit eine der spannendsten Fragen für uns. Dabei müssen wir die Frage klären, ob Links-Sein weltweit mehr ist als ein zivilgesellschaftliches Feigenblatt der sogenannten Globalisierung, das dazu verdammt ist, Mißstände aufzuzeigen, damit der Kapitalismus diese in seinem Sinne zwar ausmerzen oder wegbügeln kann, sie aber nicht grundlegend beseitigen muß. Nach zehn Jahren weltweitem Siegeszug des Kapitalismus und nach zehn Jahren neuer Großmacht Deutschland ist die radikale Linke kaum noch wahrnehmbar. Am ehesten noch im Anti-Nazi-Kampf, wo sie seit Jahren jene Lücke an fehlender Zivilcourage ausfüllt, die der deutschen Gesellschaft mit dem Ende der linksliberalen Öffenlichkeit anfang der 90er abhanden gekommen zu sein scheint. Und dieser kräftezehrende Anti-Nazi-Kampf hat uns gerade in letzter Zeit klar gemacht, daß wir neue radikale linke Akzente setzen müssen, um nicht an eigener Profillosigkeit einzugehen.
Deshalb bedeutet uns der Kampf gegen die Nazis und ihre Duldung auch mehr. Denn unser Kampf ist kein Kampf für ein besseres Deutschland. Wir treten ein für eine Gesellschaft ohne nationale Grenzen, ohne Kapitalismus, dessen Charakter immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Profitgier gekennzeichnet war und sein wird.
Die Demo in Delitzsch
Die antifaschistische Bündnisdemonstration am vierten November steht unter dem gemeinamen Motto: „Gegen Nazis in Delitzsch und Umgebung“.
Über dieses von uns getragene und unterstüzte Motto wollen und müssen wir eigene politische Akzente setzen.
Deshalb ziehen wir aus der entstandenen Situation in Delitzsch folgende politisch notwendige Konsequenz, der wir wie folgt Ausdruck verleihen:
Delitzsch nicht in Nazihand -
den „Pakt“ von Nazis und Behörden angreifen!
Wir wissen, daß dieses Motto auch im Demobündnis strittig ist. Die erfolgten diesbezüglichen öffentlichen Distanzierungen können wir aushalten und müssen wir akzeptieren.
Unser Verständnis von antifaschistischer Bündnispolitik beruht auf der Gemeinsamkeit, die unterschiedliche inhaltliche Gewichtungen zulassen muß und nicht deckeln darf.
Wir denken, daß unsere gemeinsame Demonstration nur so zum politischen Erfolg führen kann.
Leipziger übergreifende Arbeitsgruppe Delitzsch
Leipzig im Oktober 2000
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