Leipzig, den 19. Oktober 2000

>> Offener Brief an den Landrat im Landkreis Delitzsch,
Herrn Michael Czupalla

organisiert von der Leipziger übergreifenden Arbeitsgruppe Delitzsch Ihre Anzeige wegen mutmaßlicher Verleumdung und angeblichem Aufrufes zur "Jagd auf Behörden" (O-Ton) im Zusammenhang mit der für den Sa., vierten November 2000 geplanten antifaschistischen Bündnisdemonstration unter dem gemeinsamen Motto "Gegen Nazis in Delizsch und Umgebung". hier: Reaktion der Demoinitiatorinnen und Initiatoren

Sehr geehrter Herr Czupalla,
als Leipziger antifaschistische Arbeitsgruppe, die sich wegen des schwerwiegenden Delitzscher Neonaziproblems bereits vor einigen Monaten konstituiert hat und denen Miglieder verschiedener antifaschistischer Initiativen und Gruppen angehören, sind wir gleichzeitig die Initiatorinnen und Initiatoren der für den vierten November 2000 geplanten antifaschistischen Bündnisdemonstration.
Mit Entsetzen und Empörung haben wir von Ihrer Anzeige gegen die Anmelder Kenntnis genommen.
Wie Sie vielleicht wissen, handelt es sich bei der Demonstration am vierten November um eine Bündnisdemonstration. Bündnis heißt, daß sich alle beteiligten Parteien, Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen auf ein gemeinsames Motto einigen. Das Bündnismotto für den vierten November lautet, und das ist Ihnen laut Anmeldung des Landtagsabgeordneten Falk Neubert bekannt, "Gegen Nazis in Delitzsch und Umgebung". Ein BÜNDnis bedeutet also die InteressenBÜNDelung eines gemeinsamen Nenners, nicht aber die Gleichschaltung unterschiedlicher inhaltlicher Gewichtungen, die jeder beteiligten Partei, Initiative oder Gruppe immanent sind. Veranschaulicht bedeutet das: wenn die Delitzscher CDU unsere Bündnisdemonstration unterstützen würde, was sie leider nicht tut, dann bleiben die programmatischen Unterschiede zwischen Ihrer Partei und beispielsweise der PDS trotzdem bestehen. Und das ist gut so, weil ansonsten niemals Bündnisse zu Stande kämen.
Sehr geehrter Herr Czupalla, gerne verdeutlichen wir Ihnen zum wiederholten Male schriftlich, daß wir kein Interesse an einer Demonstration haben, die als "von aussen aufgesetzt" Ihre beabsichtigte Wirkung vor Ort verfehlt. Daß sie dabei bestimmte Dinge als Fehler und falsch bezeichnen, ist Ihr gutes Recht und sei Ihnen wie anderen unbenommen. Allerdings möchten wir auf Fakten verweisen, die eindeutig für unsere Kooperations- und Gesprächsbereitschaft sprechen: Mit Schreiben vom 28. Juli 2000 haben wir für den Di., 08. 08. 2000 zu einem "Erörterungstreffen zum Vorschlag einer großen Demonstration gegen Neonazis und Rassismus in Delitzsch und Umgebung" eingeladen. In dem Einladungsschreiben haben wir breit verdeutlicht, wer und was wir sind. Am Treffen nahmen Vertreterinnen und Vertreter Ihres Amtes, des Landratsamtes, ebenso teil wie Vertreterinnen und Vertreter aller Delitzscher Parteien, anderer Behörden sowie eine Vielzahl von Delitzscher Jugend- und Sozialvereinen. Während des Treffens haben wir explizit Kritik bezüglich der Delitzscher Stadtpolitik und behördlicher Entscheidungen geäußert. Daß diese von den direkt benannten und Verantwortlichen in Gegenreden abgewehrt wurde und nicht geteilt, hat uns nicht verwundert. Allerdings wurden während des Treffens konstruktive Grundlagen für eine weiterführende Gesprächsführung zwischen uns, den Behörden und Parteien gelegt. So lud uns der Delitzscher Ordnungsamtschef zu einem Gespräch ein, in dem er davon sprach, daß er sehr gern unser definitiv vorhandenes Expertenwissen und unsere Analyse der Delitzscher Neonaziszene intensiv zur Kenntnis nehmen möchte.
Während des Treffens wurde unser Vorschlag einer großen Demonstration außer von wenigen einzelnen, so vom Vertreter der CDU, nicht abgelehnt, sondern weitere Gespächsbereitschaft signalisiert.
Es wurde ein Folgetreffen vereinbart, an dem alle Anwesenden bis auf wenige Ausnahmen sich wieder treffen wollten.
Wir luden wie gehabt als Arbeitsgruppe Delitzsch mit vollständiger Anschrift und Telefonnumer zu einem Folgetreffen für den fünften September ein (Schreiben vom 25. August 2000). Allerdings erschienen trotz erweitertem(!) Einladungsverteiler statt der vorherigen ca. 50 Personen plötzlich nur noch ca. 15. Darunter nur noch drei Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Verteterinnen und Vertreter der örtlichen PDS, der Verein Die Anderen e.V., Vertreterinnen und Vertreter der Delitzscher Antifa-Gruppe sowie wir als Leipziger Arbeitsgruppe Delitzsch. Worauf das Fernbleiben anderer trotz fester Zusage zurückzuführen ist, können wir nicht sagen, sondern nur Vermutungen darüber anstellen, die z.B. darauf zurückzuführen sind, daß der Delitzscher Ordnungamtsleiter nur 14 Tage nach dem ersten Treffen uns urplötzlich durch eine Mitarbeiterin seines Amtes mitteilen läßt, daß er nicht mehr "legitimiert" sei, mit uns überhaupt zu reden. Seitdem drängt sich für uns der Eindruck auf, daß die Behörden und verantwortlichen Politiker - mit Ausnahme der PDS - uns scheuen wie der Teufel das Weihwasser, weil wir nur noch als Störenfriede und Unruhestifter wahrgenommen zu werden scheinen.
Beim dem Treffen am fünften September wurde mit einer Gegenstimme endgültig die Demonstration für den vierten November beschlossen.
Da wir nun von der Notwendigkeit getrieben waren, so viele als möglich vor Ort für die Demo in Delitzsch zu gewinnen, haben wir mit einem riesigen Einladungsverteiler zweimal (!) für den 27. September zu einem dritten Treffen eingeladen. Aber niemand ausser dem Kreis vom zweiten.Treffen kam. Das ist mehr als bezeichnend.
Bei dem Treffen wurde ein gemeinsamer Aufruf unter dem Bündnismotto "Gegen Nazis in Delitzsch und Umgebung" verabschiedet, für den um Unterstützerinnen und Unterstützer lokal, regional wie überregional geworben wird.
Durch die unerklärliche und vor allem unvermittelte - niemand hat uns abgesagt, niemand ein Fernbleiben begründet - schlechte Resonanz auf unsere Einladung sahen wir uns in notwendigem Zugzwang, auf die Leute dort zuzugehen, wo man sie findet. Wir wendeten uns deshalb mit Schreiben vom 08. September an die beiden kirchlichen Initiatoren des damals sogenannten "Runden Tisch gegen Gewalt" und baten um Einladung. Doch nichts passierte - keine Einladung, keine Absage, keine Reaktion! Wir können uns das absolut nicht erklären, zumal wir ausdrücklich mitteilten, gerade deshalb an einer Teilnahme am Runden Tisch interessiert zu sein, weil "wir eine breite Beteiligung der Delitzscher Bevölkerung, ihrer Institutionen, Parteien, Einrichtungen, Initiativen und Behörden anstreben" (O-Ton Schreiben vom 08. September 2000).
Sehr geehrter Herr Czupalla, Delitzsch hat in erster Linie ein ausgemachtes Neonaziproblem. Deshalb hat auch Ihre Behörde, und damit gerade auch Sie, von uns drei Mal eine Einladung zu einem Gespräch erhalten. Sie haben darauf wie alle anderen Abwesenden uns gegenüber nicht einmal reagiert, weder abgesagt noch kritisiert noch sonst irgendetwas. Warum, so fragen wir uns? Hätten Sie das nämlich getan, wüßten Sie noch besser, was Sie eigentlich wissen müßten. Nämlich, daß wir tatsächlich von einem unausgesprochenen, natürlich nicht formal oder schriftlich formulierten "Pakt" zwischen Nazis und Behörden sprechen.
Die Handzettel mit dem Motto "Delitzsch nicht in Nazihand - den 'Pakt' von Nazis und Behörden angreifen" , auf die sie sich beziehen, sind urheberrechtlich von uns als Arbeitsgruppe unterzeichnet. Sie sind während des Konzertes "Gegen Faschismus" am 07. Oktober im Delitzscher "YOZ" aber keineswegs von Delitzschern, sondern von anderen Leuten verteilt worden. Deshalb ist unmißverständlich festzustellen, daß der Veranstalter des Konzertes nichts mit diesen Handzetteln zu tun hat. Das gilt für das Motto wie für den gesamten Inhalt. Auch die örtliche PDS, das dürfte Ihnen mittlerweile mehrmals zu verstehen gegeben worden sein, trägt den Inhalt in keiner Weise mit, sondern distanziert sich von ihm.
Daß wir dennoch von einem 'Pakt' sprechen - wohlgemerkt in Anführungszeichen, was ja inzwischen geflissentlich unterschlagen wird-, mag Sie empören, ändert aber nichts an unserer Einschätzung und Analyse der Situation. Auf dem Handzettel, um das mal festzustellen, steht im übrigen folgendes: Delitzsch wird da als mittlerweile "Tummelplatz, an dem Nazis nichts ernsthaftes zu befürchten haben" bezeichnet. Weiter heißt es dazu: "Möglich geworden ist dies durch die Duldung und Zuarbeit der örtlichen verantwortlichen Behörden und Politiker. Diesen Zustand nennen wir einen 'Pakt' zwischen Behörden und Nazis, den wir angreifen und zerschlagen wollen." Und weiter heißt es: "Wenn wir in Delitzsch demonstrieren, dann nicht zuletzt deshalb, weil wir uns mit den wenigen vor Ort Aktiven solidarisch erklären wollen, die den Nazis und der dortigen Situation die Stirn bieten. Wir wollen Ihnen den Rücken stärken, ihnen zeigen, daß sie nicht auf sich allein gestellt sind."
Sicherlich können Sie sich über die verwendeten Termini wie "angreifen" oder "zerschlagen" echauffieren. Ihre gestellte Anzeige wegen angeblicher Verleumdung Ihrer Behörde aber ist eine Form von Selbststilierung zu Opfern sowie von Kritikunfähigkeit. Wenn Sie tatsächlich der Meinung sind, daß solche Verben ausschließlich im umgangssprachlichen Sinne für direkte Gewalt gegen Sachen und natürliche Personen zu begreifen und zu verstehen sind, dann empfehlen wir Ihnen einen simplen Blick in den Duden oder ein Fremdwörterbuch. Im Bedarfsfall kann Ihnen eine sachverständige Persönlichkeit, ein Linguist b.z.w. Etymologe zur Aufklärung verhelfen. Bei der Vermittlung eines Kontaktes sind wir Ihnen gern behilflich.
Werter Herr Czupalla, Sie behaupten, ein Motiv für Ihre Anzeige gegen die Anmelder der Demonstration sei, daß wir "zur Jagd auf Behörden aufrufen" würden (Leipziger Volkszeitung vom 11.10.2000). Es steht zu vermuten, daß Sie im Vorfeld der Demonstration folgerichtig auch noch behaupten werden, Sie und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihrer Behörde könnten sich nicht mehr auf die Straße getrauen. Wir fragen Sie: Was glauben Sie, wer wir sind? Sie könnten es wissen, wenn Sie nur einmal unsere mehrmaligen Gesprächsangebote wahrgenommen hätten. Dann könnten Sie wissen, daß wir keine verantwortungslosen dunklen Gestalten sind, sondern verantwortungsbewußte politisch handelnde Subjekte, die die Meinung vertreten, daß die beste Antwort auf Rechts Links ist. Daß Sie dies, Herr Czupalla, mit Sicherheit für die falsche Antwort halten, verrät schon Ihre CDU-Mitgliedschaft.
Sie behaupten gegenüber der Leipziger Volkszeitung vom 11.10.2000, daß "ein Zusammengehen mit den Nazis nie praktiziert, im Gegenteil aktiv alle rechtsgerichteten Aktivitäten im Landkreis nachhaltig und sofort bekämpft" wurden. Nun, würden Sie sich nur einmal die Mühe machen und beispielsweise die Kinder- und Jugendinformations- und Beratungsstellen (KUJIBS) ernsthaft befragen, wie es im Landkreis aussieht, dann erführen Sie, daß die absolute Mehrzahl der Jugendeinrichtungen rechts dominiert sind und von einer "Bekämpfung" - wir möchten Sie bezüglich der Verwendung dieses Terminus nur der Fairness halber am Rande auch auf Ihre ebenso gewaltmetaphorische Sprache hinweisen - weit und breit nichts zu spüren ist.
Sie sind der Meinung, der Tatbestand der Verleumdung Ihrer Behörde sei erfüllt. Dazu möchten wir Ihnen mitteilen, daß wir inzwischen genügend und ausreichend belastendes Material zur Verfügung haben, um unsere Analyse und unsere Zuspitzung der Delitzscher Situation mit der Verwendung des Begriffes 'Pakt' absolut durch die grundgesetzlich verbriefte Meinungsgsfreiheit als gedeckt anzusehen. Sie müßten wissen, daß die Auslegung dieser Meinungsfreiheit es irrelevant macht, ob Sie ein Motto wie "Delitzsch nicht in Nazihand - den 'Pakt von Nazis und Behörden angreifen" falsch finden.
Sarkastisch läßt sich sagen, daß es in diesem Sinne gar nicht so schlecht ist, daß Sie Anzeige erstattet haben. So wird sich gerichstnotorisch machen lassen, daß es legitim ist, in Delitzsch von einem 'Pakt' zu sprechen. In diesem Sinne möchten wir Sie gar dazu anhalten, die Anzeige nicht zurückzuziehen.
Wir sind uns inzwischen sicher, daß Sie sich durch Ihre Äußerungen und Taten in eine Situation manövriert haben, die sie zwangsläufig nötigt, unsere Demonstration zu verbieten. Das können wir menschlich sogar nachvollziehen. Schließlich geht es für Sie ja auch darum, Ihr Gesicht vor Ort zu bewahren. Auf der politischen Ebene aber wird es als tendenziös und böswillig einzuordnen sein. Das drohende Verbot unserer Demonstration wird zu einer demokratischen Bankrotterklärung geraten und sich gegen den gesellschaftlichen Anti-Nazi-Konsens stellen.
Da auch Sie als Verwaltungsmensch Ihrem demokratischen Gewissen verplichtet sein sollten, möchten wir an ebendieses appellieren.
Sehr geehrter Herr Czupalla, Sie werden vielleicht verstehen, daß wir in dieser Situation auch einmal drastische Worte wählen mußten, denn auch wir sind nicht frei von Emotionen.
Aus- und nachdrücklich möchten wir dennoch unsere uneingeschränkte Gesprächsbereitschaft betonen. Schreiben Sie uns, rufen Sie uns an, lassen Sie uns etwas ausrichten - aber signalisieren Sie bitte endlich nach etlichen gescheiterten Versuchen von unserer Seite Gesprächsbereitschaft.


Mit freundlichen Grüßen
Ihre Leipziger Arbeitsgruppe Delitzsch


(Dieser offene Brief wird parallel zur Zustellung an Sie der Presse, anderen Verantwortungsträgern sowie Initiativen zur Kenntnis gereicht.)