Es gibt keine Parteien mehr, sondern nur noch (Ost)-Deutsche
Schon Wochen im Vorfeld gab es von Seiten der Politik und Verwaltung Bemühungen, die Demonstration der Kampagne "Schöner leben ohne Naziläden" am 3. Dezember in Pirna zu verhindern. Den Kreistag des Landkreises sächsische Schweiz einte die geschlossene Ablehnung einer von "Fremden angezettelten Kundgebung". Man sah nicht ein, sich "zerstören zu lassen, was in 15 Jahren aufgebaut wurde", so Oberbürgermeister Mattias Ulbig.
Was wurde hier aufgebaut? Eine Gesellschaft, die es nicht als Gewalt begreift, wenn einem vietnamesischen Gemüsehändler vier Mal in einer Woche die Scheiben eingeschmissen werden und Nazi-Übergriffe auf Dissidenten der national befreiten Zone auf der Tagesordnung stehen. Eine Gesellschaft, in der Demokratiepflege eine Podiumsveranstaltung drei Tage vor der Antifa-Demo meint, bei der Landrat Michael Geisler und ansässige Nazis über Möglichkeiten diskutieren, "den Exstremisten im Landkreis sächsische Schweiz keine Chance" zu geben. Eine Gesellschaft, die den Ausnahmezustand ausruft, wenn sich eine linke Demonstration ankündigt, weil sie um die Existenz von Einzelhandel und Weihnachtsmarkt fürchtet, wenn selbige sich gegen den ortsansässigen Naziladen richtet. Eine Gesellschaft, die zu einem Fünftel bei Kommunal- und Landtagswahlen für die nationalsozialistische Option votiert und deren gesellschaftliche Mitte demnach irgendwo zwischen dem weithin verbreiteten rechten Konsens und den Skinheads Sächsische Schweiz liegt.
Auch die PDS hat sich mehrheitlich dem Heimatschutz verschrieben. Acht von 13 Fraktionsmitgliedern drohten im Kreistag mit ihrem Parteiaustritt, sollte die Antifa-Demo stattfinden. Die Antifa-Beauftragte der PDS steht dagegen nicht nur auf verlorenem Posten. Als Demo-Anmelderin führte sie im Vorfeld Verhandlungen, um die Aktion zu entschärfen. Während Polizeiübergriffen rief sie die DemonstrantInnen dazu auf, sich zu mäßigen, und löste zwischenzeitlich gar die Demonstration auf. Schließlich distanzierte sie sich auch im Nachhinein von den DemonstrantInnen und dankte öffentlich der Polizei.
Wie die PDS lehnte auch der Kreisverband Bündnis 90/Die Grünen die Demonstration ab. Die CDU wird, wie der sächsische Ministerpräsident Milbradt ankündigte, auf ihrer Suche nach verirrten CDU-WählerInnen noch weiter nach rechts rücken. Dieser Konzeption folgend wurde zwei Wochen vor der Demonstration auf Betreiben des CDU-Landrats eine Gegendemonstration der Nazis, deren Endpunkt auf der Route der Antifa-Demonstration liegen sollte, nicht - wie beim Vollzug des Versammlungsgesetz üblich - verlegt oder gar verboten. Auf Initiative des Oberbürgermeisters hatte der Kreistag daraufhin einen Antrag angenommen, in dem VertreterInnen der PDS und NPD aufgefordert wurden, auf die Absage beider Demonstrationen hinzuwirken. Ansonsten sollten beide Demonstrationen untersagt werden.
Der NPD-Abgeordnete Leichsenring konnte nun, obwohl er angeblich keinen Kontakt zur "Intifada gegen antideutsche Dummheit" hatte, das generöse Angebot machen, die Gegendemo der Nazis binnen einer Stunde abzusagen, sofern die Antifa-Demo nicht stattfände. Hierfür erhielt er Beifall quer durch alle Fraktionen - bei den Nazis herrscht zumindest noch Zug in der Truppe. Auf parlamentarischer und behördlicher Ebene wollte man dem verlockenden Angebot der NPD, "keine Antifademo = keine Demo freier Kräfte + ruhiger Sonnabend für die Weihnachtsmarkteröffnung in der Kreisstadt", nicht widerstehen. Dies ließ sich jedoch auf rechtlicher Ebene im Vorfeld nicht durchsetzten, weshalb die Demonstration der Kampagne "Schöner Leben ohne Naziläden" vor Ort inhaltlich unter Quarantäne gestellt und faktisch verhindert wurde.
Hatten die zuständige Behörden durch ihre Zustimmung zur Nazidemo für weiteres Eskalationspotential gesorgt, forderte das Ordnungsamt gleichzeitig dazu auf, Ladenfenster und Türen zu sichern und Autos von den angekündigten Routen zu entfernen. Der Oberbürgermeister warnte vor Stein- und Flaschenwürfen sowie brandschatzenden Vermummten, weshalb Schaulustige zu ihrer eigenen Sicherheit von Landrat Geisler gebeten wurden, sich fernzuhalten. Logisch: Heimatschutz lautete die Losung des Tages. Konzepte, die die Durchführbarkeit und Gewährleistung einer Anti-Nazi-Demonstration vorsehen, wie es westlich der Ostzone das Selbstverständnis einer demokratische Grundordnung auferlegt, können in Pirna nicht überzeugen. Zumal sich auch allgemein auf polizeilicher Ebene die Tendenz abzeichnet, "freie Meinungsäußerungen" jenseits eines enger werdenden "demokratischen Spektrums" nach Möglichkeit zu verhindern.
Erwartungsgemäß ließen sich am Rand der Demonstration gegen den Naziladen Eagle nur diejenigen blicken, die die DemonstrantInnen als die "wahren Terroristen" beschimpften. Welchen Terrorismus meinen diese Leute? Wohl den demokratischen Meinungspluralismusterrror, der die ansässige Bevölkerung schon durch die bloße Ankündigung einer Antifa-Demo in Angst und Schrecken versetzt. Vorgeschoben werden dabei die Projektionen fantastischer Gewaltszenarien, deren Dramaturgie an die drohende Ankunft der Russen erinnert, die heute jedoch durch Randalierer aus Köln und Berlin abgelöst sind. Sehr schön fügt sich hier das Bild der misshandelten Schwangeren aus Pirna ein, das im Nachgang der Demonstration durch die NPD in Umlauf gebracht wurde. Die Misshandlung wird selbstverständlich den Linken angelastet.
Das Beispiel Pirna macht 15 Jahre nach Wende und Mauerfall auf eklatante Weise die Nicht-Entwicklung von so etwas wie liberaler Öffentlichkeit oder Zivilgesellschaft zwischen den Kühen und Schweinen der ostdeutschen Provinzen deutlich. Verändert hat sich in dieser Zeit nur, dass die Nazis heute nicht länger aus der Mitte der Gesellschaft hervor gehen, sondern sie mehr und mehr repräsentieren.
Eine Demonstration gegen Nazi-Strukturen kann in Regionen wie der sächsischen Schweiz folglich nur als gewaltsamer Eingriff in den Alltag wahrgenommen werden, während man mit der alltäglichen Gewalt der Nazis - jenseits von Imagefragen - bestens zu leben scheint. Verständlich ist das auch der regionalen Presse, wahrscheinlich weil die Gewalt der Nazis immer nur die anderen, die Fremden trifft. Derlei Übergriffe finden dann auch kaum Platz in den Zeitungen und werden aufgrund ihrer Häufigkeit als nicht so schlimm empfunden.
Über die Akzeptanz der Nazis kann auch die Chiffre des "Extremismus" nicht hinwegtäuschen, die immer dann in Anschlag gebracht wird, wenn die Nazis dadurch erklärt werden, dass durch "linken Extremismus" "rechter Extremismus" hervorgerufen wird. Das die Extremismustheorie die öffentliche Wahrnehmung bestimmt, zeigt, dass auch die bundesweite Presse in Anbetracht linker Gegenwehr von einem neuen Niveau der Radikalisierung spricht. Gemeint sind hiermit militärisch geprägte Schlägertrupps auf der Nazi-Seite und die gesamte Antifa-Szene auf der Linken.
Vor dem Hintergrund der jahrelangen Welle der Gewalt gegen AusländerInnen und AsylbewerberInnenheimen kam Politik und Gesellschaft am Ende der 90er dazu, antifaschistische Aktivitäten bedingt zu legitimieren und diesbezüglichen Handlungsbedarf einzugestehen. Heute sind die Opfer wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, und die Mehrheit der gesamtdeutschen Gesellschaft scheint insbesondere bei den jüngsten Nazi-Wahlerfolgen, maximal in der Lage zu sein, den gewaltsamen Ausdruck der völkischen, nationalsozialistischen Bewegung zu kritisieren. Dabei tritt angesichts Hartz IV und anderen Verschärfungen auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene, das deutsche Krisenbewusstsein verbunden mit dem Ruf nach dem autoritären starken Staat auf. Völkisch-nationalsozialistisches Gedankengut wird zunehmend zum Kitt einer deutschen Bevölkerung, die - wie auch die PDS mittlerweile weiß - einfach nur die "Schnauze voll" hat. Wer hier noch Kritik übt, rückt automatisch in die Nähe des Volksfeindes - alle die gewählt werden wollen, lassen hiervon die Finger.
Auch der Inhalt der Kampagne "Schöner Leben ohne Nazi-Läden" wird in national befreiten Zonen nicht zum Anlass für eine problematisierende Auseinadersetzung mit dieser Situation werden, weshalb über die richtigen und falschen Mittel zu diskutieren ist, über nazistische Umtriebe aufzuklären und dem Volkskörper ein Dorn im Auge zu sein.
Das Zusammenspiel der beschriebenen gesellschaftlichen Umstände in der sächsischen Schweiz und der massiven Repressionen durch die Polizei vor Ort haben die Durchführung einer antifaschistischen Demonstration in Pirna nahezu verunmöglicht. Insofern war die Demonstration kein Erfolg. Die Tatsache, dass mehr als 1.200 Leute in Reaktion auf das derzeitige Oberwasser der Nazis - Angriff auf eine antifaschistische Demonstration in Chemnitz, Bombenanschlag auf das NDK in Wurzen, Einzug ins sächsische Parlament - den Weg in die sächsische Provinz fanden, scheint vordergründig ein Lichtblick zu sein. Dieser verfinstert sich jedoch gehörig gerät die tatsächliche Handlungsunfähigkeit in der ostsächsischen Provinz ins Bild. Das von der Polizei erzwungene und durch die Demonstration unbeantwortete "zum Bahnhof Zurücklaufen", sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine antifaschistische Demonstration in Pirna nicht durchgeführt wurde.
Folgerichtig wäre eine antifaschistische Initiative, die inhaltlich auf das Zusammenspiel von Behörden, städtischen Würdenträgern, Kreistag, Aktion Zivilcourage, der Pirnaer Bevölkerung und Nazis abzielt. Denn nahezu ganz Pirna war sich darin einig, dass eine antifaschistische Demonstration im Elbestädtchen im Vergleich zu einem Naziladen das größere Übel darstellt. In dieser Situation kann die Kampagne "Schöner Leben ohne Naziläden" kein schöneres Leben ohne Nazis versprechen, selbst wenn es diesen Laden nicht mehr geben würde. Zukünftig sollten vielmehr erneut Konzepte diskutiert werden, die der notwendigen antifaschistischen Selbstverteidigung adäquate Mittel zum Kampf gegen die Hegemonie der Nazis und die gewalttätige Durchsetzung eines rechten Konsens zur Seite stellen.
== Bündnis gegen Rechts Leipzig (BgR)== [Nummer:15/2005] |