Incipito
Na Logo!

3 ½ Tage London zwischen Hilda Guevara und Abdullah Öcalan


Die Veranstaltung des "Europäischen Sozialforums" ruft bei verschiedenen Personen stark unterschiedliche Reaktionen hervor. Preisen die einen den Konstruktivitätsgrad der gemäßigteren Teile der sogenannten Antiglobalisierungsbewegung, sehen andere in ihr einen Meilenstein innerhalb einer den Kapitalismus überwindenden Bewegung, so sehen dritte in ihr gar eine durch und durch antizionistische, völkische und antiemanzipatorische Sammlungsbewegung, an der es nichts, aber auch gar nichts zu retten gibt. Geprägt durch die inhaltlichen Auseinandersetzung mit der europäischen Linken (u.a. der Artikel in Incipito, Teilnahme an Camp von Utopia Socialiste in Italien etc.), durch Artikel und Texte über die Sozialforen und ebenso Erklärungen von Veranstaltern des ESF, machte ich mich auf nach London - weniger, um meine Vorurteile bestätigt sehen zu wollen, sondern vielmehr, um mir selbst eine Bild - ohne die (anti-)deutsche Brille, durch die viele Texte zu den Sozialforen in bestimmten Teilen der radikalen Linken gehen - davon zu machen.

Die Europäischen Sozialforen verstehen sich selbst als Teil des aus den gemäßigten Kräften der Antiglobalisierungsbewegung hervorgegangenen weltweiten Prozesses der Sozialforen. Jene sind als eine Art Gegenveranstaltung zu den WTO- und G8-Gipfeln entstanden. Im Zentrum steht die Kritik an Neoliberalismus und Globalisierung. Als Ziele werden verstanden: Alternativen zum Modell des Neoliberalismus aufzuzeigen und auszuarbeiten, Symbolpolitik: eine andere Globalisierung jenseits von WTO und G8 ist möglich, die Vernetzung sozial engagierter Personen und Organisationen und v.a. Koordination und Erfahrungsaustausch. In der "Charta der Prinzipien" (Porto Allegre, 2002) ist das Selbstverständnis der Weltsozialforen formuliert. Darin heißt es: "Das Weltsozialforum ist ein offener Treffpunkt für reflektierendes Denken, für die demokratische Debatte von Ideen, für die Formulierung von Anträgen, für freien Austausch von Erfahrungen und zum Vernetzen effektiver Aktionen von Gruppen und Bewegungen der Zivilgesellschaft, die sich dem Neoliberalismus und der Weltherrschaft durch das Kapital oder irgendeine andere Form des Imperialismus widersetzen und sich für den Aufbau einer planetarischen Gesellschaft engagieren, in der der Mensch im Mittelpunkt steht."

Zum 3. Europäischen Sozialforum in London kamen über 20.000 Menschen - Vertreter von NGOs, sozialen Bewegungen, Entwicklungshilfe- und Flüchtlingsgruppen, karitativen, christlichen und muslimischen Vereinen, Soli-Kampagnen für nationale Befreiungsbewegungen, Gewerkschafter, Umweltschützer, Anti-Imps und Marxisten aller Coleur, Antizionisten, Autonome und Libertäre etc.

Kritkwürdig erwies sich bereits die Organisation der Eröffnungsveranstaltung mit (u.a.) Hilda Guevara (Tochter von Che) und Ken Livingstone (Mayor of London) in der Southwark Cathedral. Angekündigt für 19 Uhr, war der Saal bereits 17 Uhr überfüllt - eine Videoübertragung für diejenigen, die vor den geschlossenen Toren standen, gab es nicht. Nun, halb zusammengebrochen vom Tragen des Gepäcks, hatte der Großteil der mit dem Flugzeug angekommenen Leipziger Gruppe es sowieso vorgezogen, die Unterkunft aufzusuchen... ein kurdisches Kulturzentrum im Londoner Nordosten. Dort wurden wir von einem meterlangen und -breiten Photo des politischen Gefangenen und Kurdenführers Abdullah Öcalan begrüßt, das an der Wand und über unseren Schlafplätzen throhnte. Im nahen Pub wars aber auch schön, zumindest bis 23 Uhr: "It's time Gentlemen!" Dafür gabs dann aber auch schon früh um acht frisch gebackene und leckere Fladen mit Käse oder Minze und Spinat gefüllt, nachdem einige Unverbesserliche sieben Uhr das Licht im Saal angemacht hatten...

Ca. 200 inhaltiche und nochmals ähnlich so viele kulturelle Veranstaltungen waren von Donnerstag bis Sonntag Vormittag auf zwei Orte verteilt - den "Alexandra Palace" im Nordosten und die "Bloomsbury Area" in Central London. In der "Middlesex University" und einigen weiteren Orten in Central London fanden die als Alternative zum ESF organiserten Workshops und Seminare der "Autonomous Spaces" bzw. "Beyond ESF" statt. Auf letztere werde ich weiter unten gesondert eingehen.

Nur wenigen der Anwesenden kann man Eurozentrismus vorwerfen - von globaler Verantwortung war nahezu durchgängig die Rede. Eine andere Welt soll möglich sein. Doch wie die aussehen soll, darin spalten sich die Geister - ein Sammelsurium von Utopien und ziemlich realen Umsetzungsvorstellungen.

Im Mittelpunkt standen: der Krieg im Irak, die sogenannte Okkupation der palästiensischen Gebiete seitens Israel sowie die als "Wall of Apartheid" benannte Mauer zwischen Israel und den Autonomiegebieten, Privatisierung des öffentlichen Dienstes, Gleichberechtigung/Demokratie und Gerechtigkeit sowie Umweltzerstörung und Klimawandel. Bei aller Vielfalt herrschte große Einigkeit in Bezug auf den Irak-Krieg und Plalästina. Für die zivilen Opfer der militärischen Invasion und Okkupation seitens der USA und Großbritanniens wurden Kompensierungen eingefordert. "Stop the Killing in Iraq" und "Stop Bush and Blair. Troups out of Iraq" waren die gängigsten Forderungen. Läßt sich an einer Antikriegshaltung erstmal nichts aussetzen, so sind es doch die stark verkürzten Personalisierungen und Solidaritätserklärungen mit dem Irakischen Widerstand, die der Kritik ausgesetzt werden müssen. Wirklich jenseits allem Verständis lagen die mehrheitlich einseitigen Solibekundungen für die Palästinenser. Das ESF scheint durchaus auch ein Treff der antizionistischen und propalästinensischen Teile der europäischen Linken zu sein - es gab von allem etwas: Partys für Palästina, Veranstaltungen gegen den "Agressor" Israel, das Abfeiern von palästinensischen Selbstmordattentaten und Beifallklatschen zu Boykottaufrufen gegenüber Israel.

Allerdings wäre es auch falsch, das "Europäische Sozialforum" darauf zu reduzieren - wenn auch wohl die wenigsten Teilnehmer (und noch viel weniger die Veranstalter) ein Problem damit zu haben schienen... Dies ist angesichts der Breite von Inhalten sowie teilnehmenden Gruppen und Einzelpersonen nicht fair. Als positiv lassen sich durchaus die strikten Absagen an Sozialkahlschlag in Europa, an der Privatisierung öffentlicher Güter, sowie die Forderungen nach Widerstand gegen die Angriffe des Kapitalismus auf ein menschenwürdiges Leben und die Naturzerstörung im Dienste des Primats der Ökonomie verbuchen.

Aus Kritik am ESF heraus hatte es bereits in Paris alternative Räume und Veranstaltungen gegeben. Dieses Konzept wurde in London weitergeführt. Ihre Kritik speist sich u.a. aus der Verfaßtheit des Sozialforums (Zentralismus, mangelnde direkte Demokratie) und reicht von Auffassungen, wie "das ESF werde seinen eigenen Prinzipien nicht gerecht" bis "es ist notwendig, weiterzugehen als es beansprucht). "Beyond the ESF" wurden "Autonomous Spaces" von autonomen und libertären Gruppierungen organisiert. Offene und kostenfreie Räume gab es für Vernetzung, Diskussionen, zum Feiern und zur Vorbereitung von Aktionen. Wenigstens hier wurden auf Veranstaltungen auch Stimmen laut, die vor antiamerikanischen und antijüdischen Ressentiments warnten. Von dem hier anwesenden Spektrum ging dann ebenso die Verhinderung einer Veranstaltung mit Ken Livingstone am Samstag, sowie eine kleine aber dafür lange Spontantdemo gegen Rederechte für Parteipolitiker, Demoverbot und Repressalien aus.

Ein generelles Problem war die ungewohnte Auffassung, was als Diskussion gilt: Zeitlich begrenzte Statements des Podiums. Klatschen. Zeitlich begrenzte Staments von anwesenden Gruppen und Einzelpersonen. Klatschen. - Von kontroversen oder gar emphatischen Diskussionen (nahezu) keine Spur. Ich selbst hab nur von zwei Veranstaltungen gehört, auf denen es wirklich kontroverse Diskussionen gegeben hat - zum einen die Verhinderung des Mayors of London und im zweiten Fall konnte mir niemand sagen, worum es da eigentlich ging. Beim "Beyond ESF" soll der "Diskussionsstil" mehrheitlich ein ähnlicher gewesen sein.

Nebenbei war man ja auch in einer Weltstadt. Und wer von Inhalten genug hatte, wurde Tourist oder/und Shopper. Leider ließ das Wetter keine ausgedehnten Spaziergänge am Themseufer zu... ;-) Aber wenn man schon mal in London ist, sollte auch das Grab von Karl Marx auf der Tagesordnung stehen. Dankenswerterweise hatte "Transport of London" 20.000 Travelcards für Freitag bis Sonntag zur Verfügung gestellt, mit denen sich ausgiebig Busse, U-Bahnen und Züge nutzen ließen.

Die Abschlußdemo am Sonntag unter dem Motto "Stop the war, no to racism, end privatisation. For a Europe of peace and social justice" wurde vom britischen Linksruck-Ableger "Socialist Workers Party" in großen Teilen vereinnahmt. Mit einer immensen Anzahl an Pappschildern mit der Aufschrift "No Bush" und "Troups out of Iraq" wurden von den Socialist Workers tausende von Teilnehmenden ausgestattet. Neben einigen Palästina-Fahnen gab es nicht wenige Pappschilder mit der Aufschrift "The Wall must Fall!", "Freedom for Palestine!" und Palästina-Soli-Schilder mit Hakenkreuzfahnen, die den "Aggressor" Israel symbolisieren sollten. Auf den vorbereitenden Plena war vorher noch beschlossen worden, auch eine explizite Kritik an der europäischen Sozial- und Außenpolitik in den Aufruf aufzunehmen - allerdings gingen Transparente und Schilder, die Rassismus, Sozialkahlschlag und Privatisierungen anprangerten, in der Masse der dominierenden unter. Der antikapitalistische Block warb gar mit der Losung, daß man bei ihm nicht am richtigen Platz sei, wenn man nur Bush und nicht auch den Kapitalismus in der EU kritisieren will.

Ca. 50.000 Demo-Teilnehmer zogen so vom "Russel Square" zum "Trafalgar Square" - Gewerkschaften und NGOs, Anti-Imps und Antizionisten, Pink-and-Silver, eine kleine Gruppe Irischer Nationalisten, Soligruppen für Cuba, vereinzelte PDS-Fahnen, ein Block der Europäischen Linken u.a. mit dem Leipziger Transparent "Basic Income for all. NO to compulsary LABOUR. European Left".

Fasse ich meine Eindrücke beim Europäischen Sozialforum zusammen, dann läßt sich folgendes an Kritik konstatieren:

Als Wertkritiker stößt einem zunächst. der positive Bezug auf Arbeit, Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie im bürgerlichen Verständnis (und nur in diesem Kontext sind diese Begriffe zu verstehen) negativ auf. Fatal ist, daß es offensichtlich, bis auf wenige löbliche Ausnahmen, in der europäischen Linken nach wie vor keine Auseinandersetzung mit der Kritik am (traditionellen) Anti-Imperialismus und der Personalisierung des kapitalistischen Herrschaftsverhältnisses gegeben hat. Auf dieser Problematik fußen dann auch nahezu sämtliche weiteren Kritikpunkte: Ein verkürzter und populistischer Antiamerikanismus, der Kapitalismus auf die USA reduziert und nicht umgekehrt die Rolle der USA als letzte Weltmacht aus einer Analyse des Kapitalismus ableitet. Die Reduzierung der Gesellschaftsordnung von Wert und Abspaltung auf personalisierte Herrschaftverhältnisse in persona von Politkern wie Bush und Blair und auf kapitalistische Monopol-Firmen wie McDonalds und Coca Cola und deren Bosse verkennt, daß diese Personen austauschbar sind, und ihre durchaus bestehende Verantwortlichkeit sich daraus speist, daß sie Träger von Ideologien und Funktionen innerhalb der politischen bzw. ökonomischen Sphäre sind. Diese Funktionen und Ideologien entspringen jedoch dem Prinzip von Wert und Abspaltung und nicht etwa dem Gehirn von Bush, Blair oder Ronald McDonald. Der traditionellen Anti-Imperialistischen Ideologie entspringt ebenso der einseitige positive Bezug auf Palästina sowie die ebenso einseitige Verurteilung von Israel und der Mauer. Palästinensische Selbstmordattentate und weitere Terrorakte der Hamas werden in diesem Sinne einfach verschwiegen oder als heroischer Widerstand der Unterdrückten dargestellt. Von Antisemitismus ist (mit wenigen Ausnahmen) keine Rede. Und warum muß man, wenn man den Irak-Krieg kritisiert, denn unbedingt Solidarität mit islamistischen Fundamentalisten im Irak üben??? Das geht doch bitteschön auch ohne! Sind Plünderungen von Krankenhäusern und die Einführung des Islamismus emanzipativ??? Ich denke doch, genausowenig wie die "Einführung" von westlicher Demokratie mit Bomben!

Organisatorisch läßt sich die nahezu unüberschaubare Anzahl an Seminaren, Workshops und Plena ohne einen wirklichen roten Faden kritisieren. Ein sinnvolles Zusammentragen von Diskussionen und Erarbeiten von Strategien wird dadurch verunmöglicht. In manchen Fällen ist man allerdings geneigt, auch dankbar dafür zu sein... Und last but not least: So führt man keine Diskussionen! Wenn fast alles abgeklatscht wird, wünscht man sich insgeheim doch ab und an, den Alleszertrümmerer herauszuholen und Tabula rasa zu machen...

Was bleibt aber an positiven Eindrücken:

Es ist wichtig, sich innerhalb eines weltweiten kapitalistischen Systems global/europaweit zu vernetzen und den Widerstand gegen immer schärfere Zumutungen jenseits nationaler Grenzen zu organisieren. Die weltweiten und europaweiten Sozialforen können ein Ort dafür sein, zumal es derzeit keine anderen Alternativen gibt. Trotz der Vielschichtigkeit und Unüberschaubarkeit besteht durchaus die Möglichkeit, sich mit anderen (v.a. abseits der offiziellen Veranstaltungen) auszutauschen, zu diskutieren und Kontakte zu knüpfen.

Insgesamt betrachtet waren mir die Gewerkschaften, Bürgerrechtler, Umweltschutz- und Entwicklungshilfe-Gruppen am sympathischsten, da sie für sich und/oder andere Menschen in diesen Verhältnissen Menschen einfach ein angenehmeres Leben verschaffen wollen - woran es erstmal nichts zu kritisieren gibt. Anders ist es allerdings mit dem krassen Wahrheitsanspruch von Gruppierungen, die eben antizionistische und anti-imperialistische Standpunkte (wenn auch in verschienenen Schattierungen) vertreten. Derartige Ideologien sind gefährlich und werden nicht ohne Grund von der extremen Rechten antizipiert. Hier müssen unbedingt Diskussionen und inhaltliche Schärfungen erfolgen, überholte Analysen und Argumentationen über Bord geworfen werden.

== Ares (incipito)==
[Nummer:14/2004]
Zur Homepage
Datei wurde angelegt am: 25.10.2004